Am 11. November 2025 eröffnete die Präsidentin des Deutschen Bundestags, Julia Klöckner, gemeinsam mit der Alfred Landecker Foundation und anderen Partnern im Paul-Löbe-Haus des Bundestags die Ausstellung „Gesetz zum Leben – Wie jüdische Kontingentflüchtlinge in Deutschland ankamen“. Die Ausstellung beleuchtet ein prägendes Kapitel deutscher Migrationsgeschichte: die Aufnahme von Jüdinnen und Juden aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion seit 1991. Die Alfred Landecker Foundation fördert die Ausstellung, um Erinnerung wachzuhalten und jüdisches Leben heute zu stärken. Sie entstand mit freundlicher Unterstützung des Beauftragten der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus, Dr. Felix Klein, sowie der Kooperation mit dem Zentralrat der Juden in Deutschland, der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST) und der Jüdischen Gemeinde Berlin (Chabad).
Gesetz ermöglichte Neuanfang
Die Ausstellung erläutert das Kontingentflüchtlingsverfahren, das nach dem Zerfall der Sowjetunion im Jahr 1991 die Aufnahme jüdischer Menschen aus humanitären sowie historisch-moralischen Gründen ermöglichte, mit dem Ziel, jüdisches Leben in Deutschland wieder stärker zu verankern. Grundlage war das „Gesetz über Maßnahmen für im Rahmen humanitärer Hilfsaktionen aufgenommene Flüchtlinge“ von 1980, das ursprünglich für vietnamesische Bootsflüchtlinge gedacht war.
Die Innenministerkonferenz übertrug dieses Gesetz im Jahr 1991 auf jüdische Emigrantinnen und Emigranten, wodurch ein individuelles Asylverfahren entfiel. In den Folgejahren kamen über 200.000 Menschen, unter anderem aus Russland, Belarus, Ukraine, Usbekistan, nach Deutschland und prägen seither das jüdische Leben. Der Zentralrat der Juden in Deutschland spielte eine zentrale Rolle als Vermittler zwischen jüdischer Gemeinschaft und Bundesregierung. Unter Heinz Galinski setzte sich der Zentralrat für eine großzügige, verantwortungsvolle Aufnahmepolitik ein – im Bewusstsein der historischen Verpflichtung Deutschlands. Die Ausstellung zeichnet sowohl den politischen Prozess als auch individuelle Erfahrungen nach.
Geschichten prägen die deutsch-jüdische Gegenwart
Die Geschichte der jüdischen Kontingentflüchtlinge ist ein wesentlicher Bestandteil der deutsch-jüdischen Gegenwart. Vor dem Hintergrund zunehmendener antisemitischen Vorfälle soll die Ausstellung dazu anregen, über Erinnerung, Identität und die Gestaltung jüdischen Lebens in Deutschland nachzudenken. Sie zeigt, wie die Zuwanderinnen und Zuwanderer das jüdische Gemeindeleben transformiert und geprägt haben: Über 100.000 Jüdinnen und Juden, die nach Deutschland kamen, schlossen sich der damals nur rund 30.000 Mitglieder zählenden jüdischen Gemeinschaft an. Damit revitalisierten die neuen Mitglieder das Gemeindeleben, gleichzeitig mussten viele sprachliche, kulturelle und religiöse Hürden überwunden werden. Während der Zentralrat der Juden die politischen Rahmenbedingungen aushandelte, übernahm an dieser Stelle die ZWST einen Großteil der praktischen Umsetzung der Integration der Zugewanderten.
Persönliche Erzählungen stehen im Mittelpunkt
Zwischen politischen Dokumenten und privaten Erinnerungsstücken – von Gebetbüchern bis zu Kinderzeichnungen – wird sichtbar, was Menschen auf dem Weg ins Ungewisse begleitet hat. Interviews mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, Fotografien, künstlerische Arbeiten und persönliche Gegenstände geben Einblicke in die Lebenswege, Gedankenwelt und Herausforderungen der Zuwanderinnen und Zuwanderer: ihre Ankunft, ihre Hoffnung auf einen Neubeginn, ihre Identitätssuche, aber auch die Ablehnung, der sie ausgesetzt waren. An multimedialen Terminals können Besucherinnen und Besucher nachhören, wie Abgeordnete damals um Worte, Haltung und Verantwortung rangen – eine politische Entscheidung, die weit über Verwaltungsfragen hinausging. Ein besonderer Fokus liegt auf den künstlerischen Arbeiten von Era Freidzon, die selbst Kontingentflüchtling ist und die Ausstellung kuratiert hat. Ihre poetischen Bildwelten thematisieren Verlust, Heimat und die emotionalen Dimensionen von Flucht und Ankommen.Die Ausstellung verdeutlicht: Integration ist kein abgeschlossener Prozess – Altersarmut, Antisemitismus und gesellschaftliche Teilhabe bleiben weiterhin zentrale Aufgaben.
Bundestag würdigt ein wichtiges Kapitel deutscher Geschichte
Bei der Eröffnungsfeier im Paul-Löbe-Haus begrüßte Bundestagspräsidentin Julia Klöckner die Anwesenden. Anschließend hielten Mark Dainow, Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Lena Altman, Co-CEO der Alfred Landecker Foundation und Yehuda Teichtal, Vorstandsvorsitzender und Oberrabbiner der Jüdischen Gemeinde Chabad Berlin, Grußworte.
Lena Altman betonte in ihrer Rede die nachhaltige Wirkung der Zuwanderung: Diese Ausstellung erinnert daran, dass jüdisches Leben in Deutschland nicht einfach wiedergekehrt ist – es wurde neu aufgebaut. Von Menschen, die Sprache, Identität und Heimat neu geformt haben. Unsere Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass dieses Leben hier nicht nur möglich ist, sondern lebenswert bleibt.
Es folgte ein Podiumsgespräch mit dem Beauftragten der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus, Dr. Felix Klein, dem Direktor der Zentralwohlfahrtstelle der Juden in Deutschland, Aron Schuster, der Sozialwissenschaftlerin und Direktorin des Nevatim-Programms der Jewish Agency for Israel, Dr. Anastassia Pletoukhina, sowie dem Historiker und CEO der Nathan Peter Levinson Stiftung, Dr. Dmitrij Belkin. Die Moderation übernahm die Journalistin Sharon Adler.
Dr. Felix Klein erinnerte daran, dass die Aufnahme der jüdischen Kontingentflüchtlinge ein pragmatischer und zugleich historisch bedeutsamer Beschluss war – gefasst in einer Zeit zunehmenden Rechtsextremismus Anfang der 1990er Jahre und der Ankunft von 600.000 Menschen aus dem zerfallenden Jugoslawien. Aron Schuster betonte die Schlüsselrolle der ZWST bei der praktischen und langfristigen Integrationsarbeit sowie die bis heute spürbaren Herausforderungen, etwa die Altersarmut vieler Kontingentflüchtlinge. Auch wenn es einen relativ hohen Akademikeranteil unter den Zugewanderten gab, wurden viele Abschlüsse gar nicht oder Jahre später anerkannt, was in vielen Fällen zum beruflichen Abstieg und geringen Renten führte. Dr. Dmitrij Belkin, der selbst sogenannter Kontingentflüchtling ist, unterstreicht diese oftmals verpasste Chancen: der Aufbruch ins Ungewisse war auch damit verbunden, dass die vielen Kompetenzen der Einwanderer nicht gewürdigt wurden. Dr. Anastassia Pletoukhina, die 1998 nach Deutschland kam, berichtete lebhaft über die Widersprüche des Ankommens - über die Wiederentdeckung jüdischer Identität und zugleich die Grenzen der Zugehörigkeit: Viele erlebten Ausschluss, weil nur halachisch Jüdische, also Menschen mit jüdischer Mutter, in die Gemeinden aufgenommen wurden. Ihre Erfahrung steht exemplarisch für die Fragen, die auch die Ausstellung aufwirft: Was bedeutet es, anzukommen und wer wird Teil der Gemeinschaft?
Im anschließenden World Café hatten die Teilnehmenden der Eröffnungsfeier die Möglichkeit, sich zum Thema „Zwischen Herkunft und Zukunft: Jüdische und postsowjetische Stimmen in der deutschen Kultur“ auszutauschen. Die Künstlerin und Kuratorin Era Freidzon sowie Vadim Basin, Head of Public Affairs und Pressesprecher der Jüdischen Gemeinde Chabad Berlin führten durch die Ausstellung.
Ort: Paul-Löbe-Haus, Eingang West, Deutscher Bundestag
Laufzeit: 12. November – 10. Dezember 2025
Öffnungszeiten: Mo – Fr, 9:00 – 17:00 Uhr
Anmeldung: Erforderlich über dieses Anmeldeformular, zwei Werktage vorab. Besuchsbeginn zur vollen Stunde.
Weitere Informationen gibt es auf der Website des Deutschen Bundestages.