Restitution als Gründungsakt

Dan Diner anlässlich der Gedenkveranstaltung
"70 Jahre Luxemburger Abkommen" im Jüdischen Museum Berlin


Dan Diner, Vorsitzender der Alfred Landecker Foundation und ihres Stiftungsrats, sprach anlässlich des 70. Jahrestags der Unterzeichnung des Luxemburger Abkommens auf der Gedenkveranstaltung „Weiter Verantwortung tragen – Verantwortung weitertragen“ im Jüdischen Museum.

Es war 8 Uhr früh, als die bundesdeutsche, die israelische und die jüdische Delegation am 10. September 1952 durch gegenüberliegende, rituell sich öffnende Türen wortlos in den salle des mariages des Luxemburger Stadtpalais schritten, um ebenso wortlos am weit ausladenden Zeremonientisch Platz zu nehmen. Dort unterfertigten sie schweigend den im niederländischen Wassenaar bei Den Haag ausgehandelten Vertrag zur sogenannten „Wiedergutmachung“.

Die für einen diplomatischen Akt verdächtig frühe Uhrzeit offenbart das weitere, überaus komplexe politische Umfeld des Luxemburger Abkommens. Die Delegationen hatten sich nämlich deshalb um 8 Uhr früh im Stadtpalais einzufinden, weil bereits um 9 Uhr, eine Stunde später und am selben Ort eine überaus wichtige Sitzung anberaumt war: die erste Zusammenkunft des besonderen Ministerrats der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl – der Montanunion, die erste Institution des europäischen Einigungswerks. Anwesend waren die Gründungsväter Europas: Robert Schuman, Alcide De Gasperi und Konrad Adenauer. Letzterer führte den Vorsitz.

1949 war das Gründungsjahr der Bundesrepublik. Indes ist 1952 ein kaum geringer wichtiges annum.

In jenem Jahr häufen sich fundamentale Entscheidungen. Mitten im Koreakrieg schlägt Stalin mit an die westlichen Besatzungsmächte gerichteten Noten vor, ein wiedervereinigtes, gleichwohl neutralistisches Gesamtdeutschland zu schaffen. Ziel dieser nationalen Lockungen war es die sich im Gange befindlichen Vorhaben der atlantischen wie europäischen Integration des deutschen Weststaates zu hintertreiben. Die Alternative war Deutschland oder Europa.

Auch nach Innen konsolidierte sich das westdeutsche Gemeinwesen in diesem Jahr. Am 1. September wurde der Lastenausgleich Gesetz – ein Gesetz zur Kriegsfolgenbereinigung. Es diente vornehmlich der Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen. Rückblickend besehen handelte es sich dabei um den wohl bedeutendsten Vorgang sozialer Umverteilung in der Bundesrepublik. Und neun Tage darauf, am 10. September, wurde das Luxemburger Abkommen mit dem jüdischen Volk in Gestalt des Staates Israel und der Claims Conference in Luxemburg unterfertigt. Aus deutscher Sicht war auch dies ein Abkommen der Kriegsfolgenbereinigung. Es sollte eine rasche Integration jüdischer Flüchtlinge in den jüdischen Staat ermöglichen. So gesehen mutet Israel an wie ein herausgerissenes und in die Levante hinein verschobenes Stück Mitteleuropa.

Für die junge Bundesrepublik war das Luxemburger Abkommen mit dem jüdischen Volk der moralische Baustein seiner Integration in den Westen. Dies war durchaus Kalkül. Gleichwohl handelte es sich auch um mehr. Die sichtbare Ergriffenheit der daran beteiligten Personen lässt auf einen Akt der Anerkennung schließen. Für die jüdischen Vertreter bedeutete diese Anerkennung eine nachgetragene Würdigung der Ehre ihres Volkes durch die staatlichen Nachfolger ihrer vormaligen Peiniger. Für die deutschen Repräsentanten ließ das Abkommen auf Abbüßung, gar auf Versöhnung hoffen. Wenn schon nicht im Hier und Jetzt, so doch in absehbarer Zukunft. Konrad Adenauer zog sich nach der Unterfertigung des Vertrages in eine Kapelle zum Gebet zurück und verließ sie mit Tränen in den Augen.

Allenthalben war die Wucht von Initiation, einen kollektiven Gründungsakt zu verspüren. Der am Zeremonientisch auf deutscher Seite platzierte Jakob Altmaier, ein sozialdemokratischer Bundestagsabgeordneter jüdischer Herkunft, überliefert in seinen Erinnerungen das Bild eines inneren Dramas. Angesichts des deutschen Kanzlers habe der Leiter der israelischen Delegation, Außenminister Moshe Sharett mit „zuckenden Lippen“ dagestanden, „blass wie der Tod“. „Totenstille“ habe im Saal geherrscht. „Nur die Federn kritzelten und es roch nach gebranntem Siegellack“. So nahm Altmaier die Szene wahr, die, wie er weiter niederlegte, „sich im Schatten von sechs Millionen ermordeter, erschlagener europäischer Juden“ ereignete. Eine Szene, die seinen Worten nach „kein Dante und kein Shakespeare mit all ihrer Größe und dichterischen Wucht hätten ersinnen können.“

Die Bedeutung dieses Gründungsaktes als moralisches Entrée-Billet Deutschlands in die Gemeinschaft der Völker dürfte sich damals nur wenigen deutschen Zeitgenossen erschlossen haben. In ihrer überwiegenden Mehrheit lehnten sie das Abkommen ab. Ein Bewusstsein von Schuld oder zumindest von Verantwortung für die an den Juden verübten Verbrechen war ihnen nicht anzusehen. Dass jenes Abkommen angesichts des nur wenige Jahre zuvor von Deutschland verbrochenen Genozids – dem später so genannten Holocaust – von jüdischer Seite als ungeheuerliche Grenzüberschreitung, gleichsam als Sünde empfunden wurde, war allenthalben präsent. Über Deutschland lastete ein jüdischer Bann – ein Fluch aus Millionen Kehlen Ermordeter.

Dass die Regierung Israels die prospektiven deutschen Zahlungen als Kompensation für materielle Schäden ausgab und nicht als eine Art von Ablass für die Dahingemordeten, wurde in der jüdischen, vor allem in der israelischen Öffentlichkeit als fadenscheinig erachtet. Vor allem wurde die Bereitschaft der Regierung Ben Gurion, mit Deutschland in direkte Verhandlungen einzutreten, schon allein des hierfür unvermeidlichen physischen Kontakts wegen als Sakrileg geschmäht.

Die Knesseth-Debatte zu Jerusalem Anfang Januar 1952 war die stürmischste in der israelischen Geschichte gewesen – ein kollektiver Aufschrei gegen das Vorhaben der Regierung, mit Deutschland in Verhandlungen zu treten. Es war Moshe Sharett, dem Außenminister, aufgetragen, im Parlament die Argumente der Regierung gegen ihre Kritiker vorzutragen. In polemischer Schärfe kam er diesem Auftrag nach. Dabei konfrontierte er die oppositionellen Parlamentarier mit einer Alternative: mit der Moral des Gedächtnisses und den Erfordernissen der Staatsraison. Das Gedächtnis sei rückwärtsgewandt, der Vergangenheit verpflichtet; das der Staatsraison hingegen den Erfordernissen von Gegenwart und Zukunft zugewandt. Israel befinde sich in höchster Not, fuhr Sharett fort. Nur wenige Jahre zuvor war das politische Gemeinwesen der Juden errichtet worden. Indes sei seine Lebensfähigkeit keinesfalls gesichert. Dem Staat ermangele es an allem. Mit Weizen beladene Schiffe dümpelten vor Haifa. Das Getreide an Bord könne nicht ausgelöst werden, weil es dem Staat an Devisen fehle. Durch ins Land strömenden Flüchtlinge und Einwanderer verdreifache sich die Bevölkerung in kürzester Zeit.

Sharett warf den Gegnern von Verhandlungen zur Erlangung von Restitution vor, einem vorstaatlichen Verständnis von Wirklichkeit anzuhängen. Früher, vor der Staatswerdung Israel, so Sharett, als die Juden Verfolgung und Massakern ausgeliefert waren, seien sie ihren Feinden mit den untauglichen Mitteln des Fluchs und der Verwünschung begegnet. Dies sei ein armseliger, ein folgenloser Protest gewesen. Heute führten die Gegner eines Abkommens diese jämmerliche Tradition eines verstreuten, schutzlosen Volkes fort. Die Gegner von Restitution und Verhandlungen hätten die revolutionäre Bedeutung der Staatsgründung nicht verstanden. Sie schwadronierten von „ewigem Bann“, forderten Kontakt- und Berührungsverbote und setzten damit die Zukunft, ja die Existenz des Staates aufs Spiel.

Der Eintritt in Verhandlungen mit der Bundesrepublik Deutschland um Restitution, um sogenannte „Wiedergutmachung“ war für Israel ein schmerzhaftes Moment von Transformation, einer inneren Staatswerdung.

In der Sache dramatischer, wenn auch für das bloße Auge wenig sichtbar, mag sich ein dem Geschehen vorausgegangener Zusammenhang erweisen: Nämlich der rechtsanthropologische Nexus zwischen einem absoluten Genozid, wie es der Holocaust gewesen war und der Restitutionsfrage – oder genauer: die einer kollektiven Vernichtung entsprungene Anspruchsgrundlage auf kollektive Restitution.

Die systematische Verknüpfung zwischen absolutem Genozid und Kollektivanspruch auf Restitution rührt daher, dass die Vernichtung bzw. die Ausrottung ganzer Familienverbände dazu führt, dass niemand überlebte, um die Erbfolge anzutreten bzw. einen zivilrechtlichen Anspruch auf die materiellen Hinterlassenschaften der Ermordeten zu erheben. Das Eigentum war durch Genozid erblos geworden. Nach geltendem Territorialprinzip würden jene Hinterlassenschaften dem Staat oder jener Gebietskörperschaft anheimfallen, auf deren Gebiet sie aufgefunden werden. Womöglich gar dem deutschen Staat.

Um derart rechtsethisch unerträgliche Folgen auszuschließen, galt es erblos gewordene Vermögen und Besitztümer einem kollektiven jüdischen Anspruchsberechtigten zuzueignen. Der so entstehende Kollektivanspruch entspringt also dem Kollektivverbrechen – ein dem Genozid geschuldeter juristischer Schöpfungsakt. Die so begründete kollektive jüdische Rechtsfigur ist zwar schwächer als ein vollgültiges international anerkanntes Rechtssubjekt, ist aber moralisch stark genug, um in der Restitutionsfrage zu handeln.

Die dem Genozid hervorgegangene große rechtsschöpfende Neuerung fußt auf dem US-Militärregierungsgesetz Nr. 59 vom November 1947. Mittels seiner Maßgaben bestellte die Militärregierung sogenannte Nachfolge-Organisationen für erblos gewordenes, genauer: für durch Mord erblos gemachtes jüdisches Eigentum. Vor diesem Anspruch, dem Anspruch der Nachfolgeorganisationen, hatten das geltende Fiskalrecht und das mit ihm verbundene hoheitliche Durchgriffsrecht des Staates auf erbenlose Vermögen – das sogenannte Heimfallrecht – zurückzuweichen. Anspruch auf das erbenlose Vermögen konnte nur eine Körperschaft erheben, die berechtigt war – wie es in Gesetz Nr. 59 hieß – „eine gesamte Gruppe oder Klasse“ zu vertreten. Dies war eine Zuschreibung, die mit dem in der jüdischen Restitutionssemantik gebrauchten Bezeichnung vom „jüdischen Volk als Ganzes“ (the Jewish people as a whole) einherging. Damit geht das US-amerikanische Militärgesetz, das den jüdischen Kollektivanspruch auf erbenlose Besitztümer und Vermögenswerte regelt, allem Weiteren voraus: Auch dem Luxemburger Abkommen vom 10. September 1952 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem nunmehr als kollektive Rechtsfigur, wenn auch nicht als vollgültiges Rechtssubjekt anerkanntem jüdischen Volk – vertreten durch den Staat Israel und der Conference on Jewish Material Claims against Germany.


Dan Diner, 15.09.2022

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