Wir haben mit Dr. Tamar Lewinsky, Kuratorin für Zeitgeschichte am Jüdischen Museum Berlin, über die Bedeutung des Audio-Archivs von Claude Lanzmann gesprochen. Im Interview erläutert sie, welche neuen Perspektiven dieses Material auf den Holocaust eröffnet, welche Herausforderungen die wissenschaftliche Aufarbeitung mit sich bringt – und warum die Aufnahmen durch ihre Unmittelbarkeit einen einzigartigen Zugang zur Erinnerung eröffnen.
Das Claude Lanzmann Audio-Archiv umfasst 220 Stunden bisher unveröffentlichter Tonaufnahmen von Interviews mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen. Welche Bedeutung hat dieses Archiv für die Forschung und das Verständnis der Shoah?
Tamar Lewinsky: Die Aufnahmen der Sammlung Lanzmann geben Einblick in die Entstehungsgeschichte des Films „Shoah” und zeichnen gleichzeitig ein Bild davon, wie sich unterschiedliche Personenkreise in den 1970er Jahren an die Shoah erinnerten. Wie auch im Film spricht Claude Lanzmann mit Überlebenden, Tätern und Dritten. Der Bestand bietet Einsichten über das damalige Wissen von der Vernichtung, über zeitgenössische Erklärungsansätze und individuelle Bewältigungsstrategien. Anders als bei anderen Zeitzeugenprojekten handelt es sich nicht um professionell arrangierte Interviews, sondern um Gesprächsmitschnitte unterschiedlichster Begegnungen, die für den internen Gebrauch, zur Vorbereitung der Dreharbeiten, angefertigt wurden. Sie zeichnen sich infolgedessen durch eine besondere Unmittelbarkeit und Spontaneität aus. Bemerkenswert ist auch der ungewöhnlich hohe Grad der Reflexion, dem man in den Aufzeichnungen begegnet.
Der Film „Shoah“ hat die Wahrnehmung des Holocaust nachhaltig verändert. Welche neuen Einblicke und Facetten erwarten Sie durch die Auswertung des Audiomaterials?
TL: Besonders hervorzuheben ist, dass die Tonaufnahmen und die Filmaufnahmen komplementär sind. Es gibt nur wenige Personen, die sowohl auf den Aufnahmen zu hören sind als auch in „Shoah” oder dem umfangreichen Filmmaterial erscheinen. Das Material ist inhaltlich also größtenteils unbekannt und ergänzt das Wissen um die Vorarbeiten und Reisen während der Jahre vor den Dreharbeiten. Es wird deutlich, dass in der Recherchephase Themen beleuchtet wurden, die im Film nicht mehr behandelt werden. Durch die genaue Auswertung des Materials ist sicher besser nachzuvollziehen, wie Claude Lanzmann seinen inhaltlichen Fokus im Laufe der Zeit schärfte, welche Befragungstechniken er entwickelte und welche Themen er zu welchem Zeitpunkt verwarf.
Gibt es im Archivmaterial Aufnahmen, die Sie persönlich besonders berührt oder überrascht haben und die Sie als besonders bedeutsam hervorheben möchten?
TL: Beim Anhören der Aufnahmen gibt es immer wieder Momente, die eindrücklich und berührend sind. Manchmal sind das nur kurze Sequenzen, manchmal ganze Gespräche. Besonders sind etwa die Vorgespräche mit Personen, die sich trotz Claude Lanzmanns Bitte nicht bereit erklären wollten, sich vor der Kamera zu zeigen. Dazu gehört beispielsweise die Aufnahme mit Ilana Safran, die von ihrer Deportation nach Sobibor, ihrer Flucht während des Aufstands im Vernichtungslager, ihrer Zeit bei den Partisanen und schließlich von der Begegnung mit den Tätern vor dem Gericht in Hagen spricht.
Einen besonderen Einblick in das furchtlose und radikale Vorgehen Claude Lanzmanns und seiner Mitarbeiterinnen geben manche der Täterinterviews. So etwa das Gespräch mit Lothar Fendler. Wir hören, wie Lanzmann im Wohnzimmer des ehemaligen SS-Hauptsturmführers und Einsatzgruppenmitglieds sitzt und sich als Jude offenbart. Ähnlich verhält es sich im Fall Edmund Veesenmeyers, dem Irena Steinfeldt-Levy selbstsicher als junge deutschsprachige Israelin begegnet und offen widerspricht, als dieser die Bedeutung des Filmprojekts in Zweifel zieht.
Welche spezifischen Herausforderungen begegnen Ihnen und Ihrem Team bei der Digitalisierung, Transkription und Katalogisierung dieser Aufnahmen?
TL: Erfreulicherweise sind die Kassetten in einer insgesamt recht guten Qualität und konnten vollständig durch einen Tonrestaurator digitalisiert werden. Trotzdem gibt es zahlreiche Herausforderungen. Die Tücken der akustischen Verständlichkeit machen die Transkriptionsarbeit oft mühsam und zeitaufwändig: Es gibt Aufnahmelücken, Hintergrundgeräusche, die das Verständnis erschweren und auch Passagen, die völlig unverständlich sind. Hinzu kommt die Vielsprachigkeit der Aufnahmen und die Tatsache, dass viele Sprecher und Sprecherinnen keine Muttersprachler waren und häufig mehrere Personen gleichzeitig sprechen. Eine automatisierte Transkription ist aus diesen Gründen nicht möglich gewesen. Ein weiterer Punkt ist, dass die Kassetten oft nicht beschriftet sind, sodass Personen und Datierungen schwer zu identifizieren sind. Uns ist dennoch gelungen, den Großteil der Aufnahmen zu verschriftlichen und fast alle Stimmen Personen zuzuordnen. Auch der Aufnahmezeitraum und die Reihenfolge der Aufnahmen können wir mittlerweile skizzieren. Die Gesprächsaufnahmen werden aktuell behutsam ins Deutsche und in Kürze auch ins Englische übersetzt. Zeitgleich liefern die Kontextrecherchen täglich neue Ergebnisse.
Inwiefern gibt uns das Recherchematerial Einblicke in die Arbeitsweise von Claude Lanzmann und seinen Assistentinnen, Corinna Coulmas und Irena Steinfeldt-Levy?
TL: Was man deutlich erkennen kann, ist die Arbeitsteiligkeit innerhalb des kleinen Teams. Aus den Gesprächen lässt sich nachvollziehen, wie sich Lanzmann, Coulmas und Steinfeldt in ihrer Arbeit geographisch und in gemeinsamen Gesprächen ihre Rollen untereinander aufgeteilt haben. Hörbar wird zudem, wie intensiv das Studium der drei vorab gewesen sein muss. Ihre Fragen zeugen oft von akribischen Vorrecherchen, präziser Quellenkenntnis und – das fällt insbesondere bei den Gesprächen mit Tätern auf – unerschrockener Bereitschaft zur Konfrontation.
Die Aufnahmen bilden allerdings nur einen Teil der Recherchen und Vorarbeiten ab. Dank der Förderung der Alfred Landecker Foundation konnten wir dieses Jahr ein Videointerview mit Corinna Coulmas und Irena Steinfeldt-Levy aufzeichnen, dass die Rechercheaufnahmen um wichtige Aspekte der Entstehungsgeschichte des Filmprojekts ergänzt.