Terror der Hamas:
Die Miliz stellt den Israelis den
Vernichtungstod in Aussicht


Ein Gastbeitrag von Dan Diner, der am 25.10.2023 in der FAZ veröffentlicht wurde.

Die genozidale Botschaft der Hamas wurde in Israel verstanden. Zurzeit befinden sich die Dinge in einer prekären Schwebe. Die Zweistaatenlösung sollte wiederbelebt werden.

Gewalt ist Sprache in physischer Gestalt. Sie übermittelt Botschaften und setzt Zeichen. So war der von der Hamas am 7. Oktober in den israelischen Ortschaften des westlichen Negev von Gaza her ausgeübten Gewaltorgie ein unverkennbares Menetekel eingeschrieben: Sie stellt der israelischen Bevölkerung einen Vernichtungstod in Aussicht. Eine solche Gewalt ist genozidal.

Der Angriff der Hamas war kein gewöhnlicher terroristischer Anschlag. Es handelte sich vielmehr um eine von langer Hand vorbereitete, minutiös durchgeführten Militäraktion. Der Planung lag das Kalkül zugrunde, Geiseln für einen Israel aufzuzwingenden Austausch zu nehmen. Das Durchbrechen der massiven, zusätzlich elektronisch armierten, für unüberwindlich gehaltenen Barriere um den Gazastreifen war eine rational kalkulierte militärische Leistung.

Umso mehr setzte sich davon die von der Hamas in den umliegenden israelischen Ortschaften exekutierte grausame, militärisch dysfunktionale, weil zeitaufwendige Gewaltanwendung ab. Das sadistische Quälen und Töten von Zivilisten, von Frauen und Kleinkindern, von Alten und Behinderten, das Köpfen, Verbrennen und Vergewaltigen war neben den von den Einzelnen erlittenen Gräueln insofern hochsymbolisch, als die über den Tod hinaus verunstalteten Leiber offenbar für den kollektiven Körper der israelischen Juden zu stehen hatten.

Ein Schock durchfuhr das jüdische Gemeinwesen. Die genozidale Botschaft war dort verstanden worden. Israel wird nicht mehr das sein, was es gewesen war.

Ein Konflikt voller Paradoxien

Der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern ist von Paradoxien durchzogen. Sie entziehen sich dem unmittelbaren Eindruck. Letzterem zufolge erscheint Israel als übermächtig, die ihm unterworfenen Palästinenser erscheinen dagegen als schwach. In ihrem Gemeinwesen behaupten sich israelische Juden als Mehrheit. Die arabischen Palästinenser hingegen werden als Minderheit betrachtet. Bei näherem Hinsehen verkehrt sich die Konstellation.

So verstehen sich die Palästinenser in Israel, auf der Westbank und in Gaza sowie in der nahen und fernen Diaspora einerseits in einem engeren nationalen Sinne eben als Palästinenser. Andererseits sind sie arabischer Zugehörigkeit sowie mehrheitlich Muslime.

Und je mehr von beiden Seiten her religiöses Bewusstsein den Konflikt befeuert, desto weiter reicht die mobilisierende Kraft der Al-Aqsa-Moschee auf dem Tempelberg. So könnten sich das aktuell stark wirkende Israel als historisch, also auf lange Sicht betrachtet, schwach erweisen, die aktuell schwachen Palästinenser aber als stark. Das ist jedenfalls das jeweils handlungsanleitende Empfinden im Konflikt.

Diese ebenso komplexe wie paradoxe Konstellation schlägt sich im Konflikt in Form wie Maß von Gewaltanwendung nieder. So wird deutlich, dass der jüdische Staat Israel als Minderheit im regionalen Kontext gehalten ist, seine demografische Schwäche durch ein überlegenes Gewaltpotenzial auszugleichen. Militärisch schlägt sich dieses Potenzial in der Fähigkeit nieder, überzeugend abzuschrecken.

Beschädigte Abschreckung

Diese Abschreckung ist durch den taktischen Erfolg der Hamas vom 7. Oktober erheblich beschädigt worden. So hat die Hamas den israelischen Militärapparat nebst den ansonsten allwissenden Sicherheitsdiensten regelrecht vorgeführt. Dass es so weit hat kommen können, hat mit einer eklatanten operativen Nachlässigkeit auf israelischer Seite, dem notorischen Vertrauen auf die Macht der Technologie, vor allem der elektronischen Abwehr, und einem über allem schwebenden Hochmut zu tun.

Es gibt jedoch auch tiefer liegende Ursachen. Beobachtern war aufgefallen, dass zu den jüdischen Feiertagen im September und Oktober Truppen in der Westbank konzentriert worden waren, um den anmaßenden Vorstellungen der Siedler nachzukommen. Der westliche Negev in unmittelbarer Nachbarschaft zum Gazastreifen blieb hingegen militärisch weitgehend entblößt.

Diese Nachlässigkeit war wesentlich auf die vom Langzeitpremier Netanjahu verfolgte Konzeption zurückzuführen, die kompromisslose Hamas komme Israels Interessen gelegener als die einen eigenen palästinensischen Staat anstrebende und damit Israel gegenüber kompromissbereite Autonomiebehörde.

Und indem Netanjahu mit fernen arabischen Potentaten Normalisierungsverträge schloss und duldete, dass die Hamas kofferweise Geld aus Qatar erhielt, um sie ruhigzustellen, wurde die palästinensische Autonomiebehörde im Westjordanland umgangen und in der Westbank weiter gesiedelt. Mit dem 7. Oktober ist dieses Konzept krachend gescheitert.

Unterscheidung zwischen Staat und Land Israel

Die sich als fatal erweisende sicherheitspolitische Unterscheidung zwischen der zu besiedelnden Westbank und dem sich selbst überlassenen westlichen Negev lässt weitere, noch tiefer liegende Deutungen zu. So mögen der westliche Negev und seine Bewohner für den ursprünglichen Staat Israel in den Grenzen von 1948/49 stehen. Dieses Gemeinwesen verstand sich primär als Heimstätte für jüdische Flüchtlinge und Verfolgte, letztlich für Überlebende des Holocaust und fand als solche auch internationale Anerkennung.

Die zu besiedelnde Westbank, seit dem ­Junikrieg 1967 unter israelischer Herrschaft, steht als „Judäa und Samaria“ für den biblisch begründeten Anspruch auf Eretz Israel, das Land Israel, und ist mit eschatologischen Erlösungsvorstellungen verbunden.

Diese geografisch-politische Unterscheidung zweier Israel, vom Staate und vom Lande Israel, kommt durchaus mit dem innenpolitischen Hiatus in der israelischen Bevölkerung zur Deckung und offenbarte sich im Verlauf des als „Justizreform“ dahergekommenen Staatsumbaus. Die davon ausgelöste Krise hat das Gemeinwesen und seine Institutionen enorm beschädigt und die Aufmerksamkeit der Sicherheitsorgane wie die des Militärs erheblich beeinträchtigt.

Bei den dem Staate Israel wenig geneigten arabischen und muslimischen Nachbarn weckten diese als Schwäche interpretierten innerisraelischen Verwerfungen lange gehegte Begehrlichkeiten. Die Hamas witterte ihre Chance, ihren großen, lang und ausdauernd geübten Invasionsplan umzusetzen.

Glaube an statische Kriegsführung

Auch an einem anderen militärischen Debakel Israels dürfte das ideologische Motiv des „Ganzen Landes“ Anteil gehabt haben. Vor 50 Jahren hatte ebenfalls ein Oktober Israel erschüttert: jener des Jom-Kippur-Krieges, als eine ägyptisch-syrische Allianz Israel militärisch überraschte.

Auch hier war Hochmut im Spiel, ebenso wie eine sträfliche Nachlässigkeit der Dienste. Vor allem aber auch ein sich offenbarender Widerspruch zwischen der durch den Krieg von 1967 erworbenen strategischen Tiefe durch die Herrschaft über die Sinai-Halbinsel, die Golanhöhen sowie die Westbank und Gaza einerseits und der in der kleinräumigen Phase des Staates bis 1967 entwickelten Strategie des Bewegungskrieges andererseits.

Angesichts des genozidalen Massakers der Hamas neigt Israel dazu, eine große militärische Entscheidung in Gaza zu suchen. Und dies allein schon, um mit der Zerstörung der Hamas seine beschädigte Abschreckung wieder herzustellen. Während des Schreibens dieser Zeilen ist die angekündigte Bodenoffensive noch nicht ins Rollen gekommen.

Auf der Suche nach einer Exitstrategie

Das Warten zieht sich aus verschiedenen Gründen hin, vornehmlich dem des Zuwartens auf eine durch indirektes Verhandeln herbeizuführende Freilassung von in den Händen der Hamas befindlichen Geiseln. Das Abwarten auf amerikanisches Verlangen hin soll auch dazu beitragen, die palästinensische Bevölkerung im Gazastreifen so gut wie möglich zu versorgen und Vorbereitungen für eine, nach einer wahrscheinlichen Bodenoffensive einzuschlagenden Exitstrategie zu treffen.

Unterdessen drohen an der israelischen Nordfront die derzeit noch begrenzt geführten Feindseligkeiten mit der schiitischen Hizbullah zu eskalieren. Militärisch stellt die Schiitenmiliz für Israel eine weit größere Gefahr dar als die palästinensisch-islamische Hamas – wegen ihres gewaltigen Raketenarsenals, aber auch aufgrund ihrer überaus engen Bindung zu Iran.

Allerdings macht sich auch hier eine Zurückhaltung nahelegende Paradoxie bemerkbar: Weil ein offener, strategischer Eintritt der Hizbullah in die Kämpfe bei allen Israel dabei zugefügten Schäden und Verlusten zur militärischen Vernichtung der Schiitenmiliz führen dürfte, verlöre Iran mit der Hizbullah seinen wertvollen Levante-Degen.

Dieser soll im Interesse Irans erst dann zum Einsatz kommen, wenn Israel allein oder mit amerikanischer Unterstützung sich entscheiden sollte, die iranischen Nuklearanlagen anzugreifen. Ein Eintritt der Hizbullah in den jetzigen Krieg wäre demnach nicht im unmittelbaren Interesse Teherans, das geduldig und in langfristiger Absicht seine Kapazitäten ausbaut und dabei nicht durch von außen verursachte Verwerfungen gestört werden möchte.

Drohende Vermengung von Konflikten

So hält sich bis dato alles in höchst prekärer Schwebe, die jedoch niemand wirklich zu kontrollieren vermag: Israel, das entschlossen scheint, mit einer Bodenoffensive die Hamas militärisch zu zerstören; die Hizbullah, die bei einer israelischen Bodenoffensive in Gaza einen totalen Kriegseintritt in Aussicht stellt; die Vereinigten Staaten, die Israel ebenso unterstützen, wie sie es auch daran zu hindern suchen, überstürzt und ohne tragfähige Exitstrategie sich in einer Bodenoffensive zu verrennen – und dies alles in einer sich eintrübenden weltpolitischen Lage, in der die Kriege und Konflikte im Nahen und Mittleren Osten sich mit dem russischen Krieg in der Ukraine und den chinesischen Einschüchterungen Taiwans zu vermengen drohen.

Auch werden Bedenken laut, ob die gegenwärtige militärisch-politische Führung Israels, vor allem die im Kriegskabinett versammelten Ex-Generale und vormaligen Generalstabschefs, die entsprechende Expertise und Erfahrung mitbringen, eine derartige Lage zu bewältigen. Zumeist um 1960 herum geboren, haben sie außer kurzzeitigen militärischen Operationen, vom Libanonkrieg 1982 abgesehen, keine wirkliche Kriegserfahrung vorzuweisen. Das ist ein großer Unterschied zu den militärischen Altvorderen, die den letzten großen Krieg, den Oktoberkrieg 1973 sowie den Junikrieg 1967, den Suez-Sinai-Krieg 1956, den israelischen Gründungskrieg 1948 und sogar den Zweiten Weltkrieg militärisch aktiv erlebt hatten.

Dass Netanjahu sich von einem älteren pensionierten Offizier beraten lässt, der die Streitkräfte bestens kennt und sich als warnender Kritiker schon seit Jahren einen Namen gemacht hat, ist bemerkenswert. Das gegenwärtige Israel ist ein anderes als jenes Gemeinwesen, das sich ins historische Gedächtnis der Welt eingeprägt hat.

Für Israel gilt es schon jetzt, unabhängig von der Frage, ob es zu einer Bodenoffensive kommt oder nicht, an die Zeit danach zu denken. Nachdem alle Konzepte, die Palästinenser zu umgehen, sich in nichts aufgelöst haben, bedarf es einer neuerlichen Initiative, die in die Gründung eines palästinensischen Staates in Westbank und Gazastreifen münden sollte. Eine solche einvernehmliche Territorialisierung würde der Gefahr eines interethnischen Konflikts mit der Tendenz zu unterschiedsloser Gewaltanwendung Grenzen setzen.

Dan Diner

© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.

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