Der Aufstand im Warschauer Ghetto und die Bermuda-Konferenz:
Zwei globale Ereignisse im April 1943.

Von Sebastian Musch

(c) Wikimedia

Vor achtzig Jahren – am 19. April 1943 – kam es zu zwei historischen Ereignissen, die diesen Tag zu einem Schicksalstag für das europäische Judentum machten.

Landecker Lecturer Dr. Sebastian Musch (Universität Osnabrück), hat in einem Vortrag auf der von der Alfred Landecker Foundation geförderten Tagung des Dubnow Instituts „Looking at the Ghetto… The Warsaw Ghetto Uprising: Eighty Years in Retrospect“, den Aufstand im Warschauer Ghetto und die Bermuda-Konferenz versucht zusammenzudenken.

Der folgende Text basiert auf dem Manuskript seines Vortrags.

Am 19. April 1943 rückten in Warschau die deutschen Besatzungstruppen in das jüdische Ghetto vor. Die geplante schnelle Liquidation des Ghettos – in der Sprache der deutschen Besatzungsbürokratie als “Warschauer jüdischer Wohnbezirk” bezeichnet – und die Deportation der restlichen Internierten traf auf bewaffneten Widerstand. Die Kämpfe zogen sich über die nächsten Tage und Wochen, waren aber letztendlich aussichtslos in Anbetracht der militärischen Übermacht der deutschen Besatzungstruppen. Der Aufstand wurde aber zu einem Symbol des jüdischen Heroismus und in den folgenden Jahrzehnten zu einem der markantesten und bekanntesten Einzelereignisse des Holocausts, dem 2023 eine Reihe von Gedenkveranstaltungen – vor allem in Polen, Israel und Deutschland gewidmet sind.

Doch am 19. April 1943 richteten sich die Augen der jüdischen Öffentlichkeit – zumindest in den USA und Großbritannien – vorerst nicht nach Warschau – sondern nach Bermuda. An diesem Tag begann die heute beinahe vergessene Bermuda-Konferenz, bei der die britischen und US-amerikanischen Delegierten auf der atlantischen Hochseeinsel die nächsten elf Tage über Flucht- und Migrationsoptionen der in Europa durch die deutsche Genozidpolitik bedrohten Juden und Jüdinnen verhandelten.

Die Öffentlichkeitsarbeit von jüdischen Organisationen im Vorfeld der Konferenz hatte die Erwartungen geweckt, dass in Bermuda ein großangelegter Rettungsplan für die Juden und Jüdinnen Europas verhandelt werde. Mehrere jüdische Organisationen hatten ebenso ambitionierte wie detaillierte Rettungspläne ausgearbeitet, die sie den Delegierten im Vorfeld der Konferenz übersendeten. Der Versuch des World Jewish Congress, die Delegierten mit einem sorgfältig vorbereiteten Zwölf-Punkte-Programm zur Rettung jüdischer Flüchtlinge aus Europa zu überzeugen, ebenso wie die beiden Memoranden des Joint Emergency Committee for European Jewish Affairs einerseits und der Jewish Agency for Palestine andererseits, wurden von den Delegierten bereits am ersten Konferenztag als "utopisch" abgelehnt.

Als die Verhandlungen am 29. April 1943 zum Abschluss kamen, wurden die Ergebnisse vorerst nicht öffentlich gemacht. Allerdings waren sich die Beobachter der Verhandlungen einig: Was auch immer hinter den verschlossenen Türen ausgehandelt und als dreizehn “recommendations” nach London und Washington, D.C. empfohlen wurde, war kein großer Wurf und kein umfassendes Rettungsprogramm für das europäische Judentum. Entsprechend harsch war die öffentliche Reaktion nach der Konferenz in den USA und Großbritannien: "Hitler hat einen weiteren Sieg auf Bermuda errungen [...]", titelte beispielsweise The Jewish Frontier. Die Bermuda-Konferenz wurde – ähnlich wie der Aufstand im Warschauer Ghetto – zu einem Symbol; allerdings nicht zu einem Symbol des jüdischen Widerstands und Heroismus, sondern zu einem Symbol für die vermeintliche Untätigkeit in London und Washington, D.C. im Angesicht der deutschen Vernichtungspolitik, sowie für die restriktive Migrationspolitik während des Zweiten Weltkrieges.

Obwohl in ihrer Form und konkreten Realität zwei (nicht nur geografisch) weit auseinanderliegende Ereignisse, verbindet der Aufstand im Warschauer Ghetto und die Bermuda-Konferenz mehr als nur die zeitliche Koinzidenz am 19. April 1943 begonnen zu haben.

Der Aufstand und die Konferenz spielten sich vor dem gleichen globalen Ereignishorizont ab und waren teilweise auch Antworten auf die gleiche militärische Situation sowie die rapide eskalierende Vernichtung der jüdischen Bevölkerung Europas seit Sommer 1942. Das magere Verhandlungsergebnis auf Bermuda und der verzweifelte Griff zur Waffe im Warschauer Ghetto waren Ausdruck einer Machtlosigkeit im Angesicht des Genozids und der Unmöglichkeit, der deutschen Vernichtungspolitik ein effektives Mittel entgegenzusetzen.

Es zeigt sich zudem am Vergleich der beiden Ereignisse auch – frei nach Reinhart Koselleck – eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, denn die wenigen Bilder von Bermuda und dem Warschauer Ghetto zeigen zwei sich gegenüberstehende Wirklichkeiten. Der Kampf ums Überleben nach jahrelangem, systematischem Aushungern in engster Behausung unter der allgegenwärtigen Deportationsdrohung kontrastiert mit dem Verhandeln unter Palmen in den behaglichen Räumen des Horizons Hotel, das auf einem erhöhten Hang über dem malerischen Elbow Beach an der südlichen Küste von Bermuda, nur wenige Kilometer von der Hauptstadt Hamilton entfernt, lag. Ein Kontrast, der in der Öffentlichkeit durchaus registriert wurde.

Die Ortswahl – auf der Hochseeinsel, in einem exklusiven Hotel – war bewusst getroffen worden, um Demonstrationen zu vermeiden und nicht-akkreditierten Journalisten den Zugang zu erschweren. Während die Bermuda-Konferenz im April 1943 täglich mit den neuesten Gerüchten und Interpretationen in den US-amerikanischen und britischen Zeitungen diskutiert wurde, dauerte es einige Tage, bis Nachrichten von dem Aufstand in der Presse erschienen. Und auch dann ließen sich die Berichte nur schwer einordnen. In der langen Liste an Schreckensnachrichten aus Deutschland und dem besetzten Europa, deren Ausmaß man in den westlichen Hauptstädten und in der dortigen Öffentlichkeit nur langsam erkannte, war die Nachricht, dass die deutschen Truppen in das Warschauer Ghetto verrückten und dessen Liquidation vorantrieben, in den ersten Tagen eine Randnotiz, auch wenn die Nachrichten über den Aufstand fast unmittelbar nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in die Grenzen des Ghettos auf verschiedene Weise in der Welt verbreitet wurden. Der polnische Untergrund leitete direkt am 19. April 1943 Nachrichten über die Kämpfe aus dem Ghetto – oft über die Kanalisation – an die Außenwelt. Über eine Woche lang funktionierten die Telefone im Ghetto weiter und boten ein Mittel zur Kommunikation. Berichte über den Aufstand wurden am nächsten Tag, dem 20. April, vom polnischen Untergrund an den in London ansässigen Vertreter der polnischen Exilregierung gesendet, und am 23. April gelangte der Aufstand in die internationale Presse. Die Jewish Telegraphic Agency berichtete an diesem Tag, dass „ein Massaker an den letzten 35.000 Juden im Warschauer Ghetto von den Nazis an Pessach begonnen wurde, während die Straßen von Warschau von den Schüssen der Nazi-Mörder und den Schreien der Opfer widerhallten [und] kräftige Juden versuchten, sich innerhalb der Mauern des Ghettos zu verteidigen.“

Die Delegierten der Bermuda-Konferenz nahmen – soweit sich dies aus den Protokollen nachvollziehen lässt – während der Konferenz keine Kenntnis von den Kämpfen in Warschau. Ein Hinweis auf das Warschauer Ghetto findet sich indes in den Protokollen der Verhandlungen in Hamilton. Senator Scott Lucas aus Illinois, Teil der US-Delegation, erwähnte am Rande, "dass das Warschauer Ghetto jetzt auf unter 40.000 gesunken” sei, eine Referenz, die sich nicht auf den Aufstand bezog, sondern auf die Massendeportationen seit 1942. Die großangelegten Deportationen von rund 280.000 Ghetto-Häftlingen in das Vernichtungslager Treblinka zwischen dem 22. Juli 1942 und 24. September 1942 hatten das Leben im Ghetto verändert. Vor dem Sommer 1942 hatten rund 380.000 Inhaftierte im Ghetto gelebt, im Frühjahr 1942 waren es zeitweise sogar an die 450.000 Inhaftierte gewesen, nach den Deportationen des Sommers 1942 verblieben rund 35.000 offiziell Inhaftierte sowie rund 25.000 ”Illegale”, also im Ghetto untergetauchte Inhaftierte.

Die durch die Deportationen leer gewordenen Häuser bestimmten das Straßenbild und die Übriggebliebenen – überproportional Männer im arbeitsfähigen Alter – wurden größtenteils zur Zwangsarbeit herangezogen. Senator Scott Lucas gab hiermit einen Hinweis auf die eng mit dem Warschauer Ghetto verwobene Vorgeschichte der Bermuda-Konferenz, die auch eine Antwort auf die Eskalation der genozidalen Anstrengungen besonders im östlichen Europa unter deutscher Herrschaft seit Sommer 1942 war. Langsam setzte sich, die immer wieder durch Ungläubigkeit und Zweifel an den Berichten zurückgeworfene, Erkenntnis in den westlichen Hauptstädten durch, dass “die deutschen Behörden, die sich nicht damit begnügen, Personen jüdischer Rasse in allen Gebieten, über die sich ihre barbarische Herrschaft erstreckt hat, die elementarsten Menschenrechte zu verweigern, jetzt Hitlers oft wiederholte Absicht, das jüdische Volk in Europa auszurotten, umsetzen”, wie es in der Joint Declaration by Members of the United Nations vom 17. Dezember 1942 hieß. In der Erklärung hieß es weiter, dass "in Polen, das zum wichtigsten Schlachthof der Nazis geworden ist, die von den deutschen Eindringlingen errichteten Ghettos systematisch von allen Juden geleert werden, mit Ausnahme einiger hoch qualifizierter Arbeiter, die für die Kriegsindustrie benötigt werden. Von denen, die weggebracht wurden, wird nie wieder etwas gehört. Die Arbeitsfähigen werden in Arbeitslagern langsam zu Tode gearbeitet.” Diese von der US-Regierung, der britischen Regierung und den anderen alliierten Parteien abgegebene gemeinsame Erklärung stellte einen Point of no Return dar, da die alliierten Regierungen nun offiziell die völkermörderischen Absichten der Deutschen und ihrer Verbündeten benannt hatten und somit in der Öffentlichkeit der alliierten Ländern der Ruf nach Konsequenzen lauter wurde. Die Bermuda-Konferenz war auch ein Versuch, die wachsende Empörung in der britischen und US-amerikanischen Öffentlichkeit zu adressieren.

Die Bermuda-Konferenz war vor diesem Hintergrund ein weltöffentlichkeitswirksames Signal, ein Versuch der Selbstlegitimation, des politischen und humanitären Führungsanspruches und eine Antwort auf den wachsenden Druck und Unmut in der eigenen Bevölkerung über die Untätigkeit der alliierten Regierungen – allerdings ohne die eigene restriktive Flüchtlingspolitik ändern zu müssen.

Die Deportationen im Sommer 1942 waren somit der Katalysator für zwei unterschiedliche Wege, die in ihrer jeweiligen Logik zu der Koinzidenz des 19. Aprils 1943 führten. Während man in Washington, D.C. und London angesichts der sich immer deutlicher abzeichnenden Genozidpläne als Konsequenz die Einberufung einer binationalen Konferenz diskutierte, begann sich im Warschauer Ghetto der bewaffnete Widerstand zu organisieren, der mit ersten Aktionen im Frühherbst 1942 durch die gezielte Ermordung mehrerer Mitglieder des Judenrates Aufsehen erregte.

Direkt im Anschluss an beide Ereignisse – im Frühjahr und Sommer 1943 – wurden die Konferenz und der Aufstand in der jüdischen – und oftmals auch in der nichtjüdischen – Öffentlichkeit, bei Organisationen und Interessenvertretungen – diskursiv miteinander verknüpft. So brachte am 25. April die Zeitung Forverts, das Flagship der jiddischsprachigen Presse in den USA, als die ersten Meldungen aus dem Warschauer Ghetto in den westlichen Ländern die Runde machten, die Konferenz und den Aufstand in direkte Verbindung. Unter der Überschrift “Das Blutbad von Warschau und die Konferenz auf Bermuda” appellierte der ungenannte Autor im Namen des jüdischen Volkes an die Delegationen auf Bermuda: “Rettet uns!” Diese diskursive Verknüpfung verschwand über die Jahrzehnte. Auch weil wir es bei der Konferenz und dem Aufstand mit zwei so gegenläufigen Ereignissen zu tun haben, wurde ihre Gleichzeitigkeit und ihr Zusammenhang bald vergessen. Die Konferenz und der Aufstand wurden nicht mehr zusammen gedacht, nicht mehr nebeneinander gestellt, und in der Forschungsliteratur zum Holocaust war die zeitliche Koinzidenz meist nur einen Nebensatz wert.

Wie Avinoam Patt in seinem Buch The Jewish Heroes of Warsaw zeigt, wurde der Aufstand im Warschauer Ghetto bereits kurz nach der gewaltsamen Niederschlagung erinnerungspolitisch aufgeladen und wuchs in den folgenden Jahrzehnten zu einem Emblem des jüdischen Widerstands gegen den nationalsozialistischen Terror. Die Bermuda-Konferenz hingegen verschwand aus dem kollektiven Gedächtnis, so als ob ihr wenig ruhmvoller Ausgang, ja die allgemeine Wahrnehmung ihres Scheiterns, ihr Leumund des Versagens der USA und Großbritanniens, eine Lösung für die jüdischen Flüchtlinge (und für diejenigen, die von Verfolgung bedroht waren) zu finden, ihr Versinken im Vergessen befördert hätte.

Zum 80. Jahrestag bietet sich die Chance, beide Ereignisse in ihren gemeinsamen Kontexten und in all ihren Komplexitäten neu zu denken und die Bermuda-Konferenz dem Vergessen zu entreißen.

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