Ein Stolperstein für Alfred Landecker
Rede von Dan Diner in Andenken an den Namensgeber der Stiftung


8. November 2023

Eher dem Zufall geschuldet denn wirklich beabsichtigt, finden wir uns gerade heute, am 8. November, dem Vorabend des 85. Jahrestags der sogenannten Reichskristallnacht zusammen, um der Verlegung eines „Stolpersteins“ auf Höhe der Hausnummer 11 in der Rheinaustrasse zu Mannheim beizuwohnen – der letzten Bleibe von Alfred Landecker vor seiner Deportation nach „dem Osten“.

Bei diesem Akt geht es um mehr als nur um eine in Stein geschlagene Geste der Erinnerung. Viel mehr verdichtet sich der Eindruck, dass es sich, wie bei vielen derartigen Gedenksteinen, recht eigentlich um einen Grabstein handelt. Kein anderer Ort wird an den gewaltsamen Tod von Alfred Landecker erinnern. Wie die meisten im Holocaust Ermordeten, fand er, den poetischen Worten in Paul Celans „Todesfuge“ gemäß, ein „Grab in den Lüften“.

Mit der Verlegung des Stolpersteins für Alfred Landecker bezeugen wir: Angehörige, Nachkommen und Gäste, einer Trauergemeinde gleich, den Akt einer symbolischen Beisetzung.

Alfred Landecker war keine ikonische Gestalt des deutschen Judentums. Kein Gelehrter, kein Künstler, kein Erfinder, auch keine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens. Als unauffälliger Zeitgenosse repräsentierte er gleichwohl mehr als die oft in den Zeugenstand der Geschichte gerufenen, herausragenden Lichtgestalten des deutschen Judentums, das Leben und Wirken der damals überwiegenden Mehrheit jüdischer Menschen in Deutschland.

Alfred Landecker steht, wie das deutsche Judentum als Ganzes, in der Tradition einer langen, durch das 19. Jahrhundert führenden Emanzipationsgeschichte. Von der rechtlichen Gleichstellung, die eigentlich erst mit dem Jahre 1869 in der Novellierung der Gewerbeordnung vollendet war, führte der Weg über eine Akkulturation an die habituellen Maßgaben von Bürgerlichkeit, in manchen Fällen auch in die Assimilation, womöglich gar eines religiösen Übertritts in die nicht-jüdische, in die christliche Mehrheitskultur.

Alfred Landecker ging die Ehe mit einer katholischen Frau ein; seine Kinder wurden katholisch getauft. Er leistete Wehrdienst im kaiserlichen Heer und trat im Ersten Weltkrieg mit der Waffe in der Hand ein für das Wilhelminische Reich. Er suchte ein in jeder Hinsicht unauffälliges Leben zu führen.

Sein Weg hatte ihn aus der ostpreußischen, ländlichen Provinz in eine der Herzkammern der urbanen deutschen Moderne geführt – nach Mannheim. Wie das Ruhrgebiet im Westen war der Oberrhein mit Mannheim im Zentrum zur industriellen Jahrhundertwende Ziel einer mächtigen Binnenimmigration geworden. Hier erfolgte sein behutsamer beruflicher Aufstieg vom Buchhalter zum Prokuristen in einem Unternehmen der metallverarbeitenden Industrie.

Mannheim war zu einem Zentrum der neuen, Deutschland zur Jahrhundertwende wirtschaftlich weltweit führend machenden Branchen geworden: Chemie, Verbrennungsmotoren, Metallverarbeitung, Elektrotechnik sowie das alle Innovationen begleitende Bankwesen ließen die Stadt erblühen. Der Mannheimer Binnenhafen reüssierte zu einem der bedeutendsten kontinentalen logistischen Hubs Europas. Es war dieses ökonomische Umfeld, in dem Alfred Landecker sein kleiner, gleichwohl bewusst gelebter und mittels Insignien der Bürgerlichkeit ausgestatteter Aufstieg gelang.

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Dieser Aufstieg wurde durch die Weltwirtschaftskrise aufgehalten und von den darauffolgenden politischen Ereignissen, der Machtübertragung auf Hitler, zunehmend in Frage gestellt. Dieser Einschnitt musste damals nicht derart scharf empfunden worden sein, wie es den Nachgeborenen im historischen Rückblick erscheinen mag. Die große Mehrheit der Juden sah im Jahre 1933 noch keinen hinreichenden Grund, das nationalsozialistische Deutschland zu verlassen – und dies obwohl bereits im Frühjahr die ersten antijüdischen Maßnahmen Wirkung zeitigten.

Hoffnung und Erwartung war viel mehr, der Nazi-Spuk werde sich alsbald legen, Normalität wieder einkehren. Auch die Nürnberger (Rassen-)Gesetze von September 1935 wurden nicht als der dramatische Einschnitt empfunden, als der er im Nachhinein erscheinen mag. Von jüdischer Seite waren damals Meinungen zu vernehmen, die im 19. Jahrhundert, auf dem Rechtswege erlangte Emanzipation, also die Rechtsgleichheit der Juden, werde durch diese gesetzlichen Maßnahmen zwar eingeschränkt, nicht aber annulliert werden. Unter Juden kursierten Vorstellungen von sich als einer geschützten Minderheit. Sie verließen sich auf eine neue, wenn auch sie diskriminierende Rechtssicherheit.

Erst mit der sogenannten Reichskristallnacht vom 9. November 1938, mit der Brandstiftung an Synagogen, der Zerstörung jüdischer Geschäfte, der Ermordung von Juden und die Einweisung von tausenden jüdischer Menschen in Konzentrationslagern war eine Fluchtwelle aus dem sich inzwischen erweiterten Reich ausgelöst worden. Im Blick zurück erscheint die sogenannte Reichskristallnacht wie eine Katastrophe vor der Katastrophe. Genauso hatte auch Alfred Landecker diesen dramatischen Einschnitt wahrgenommen und dies in verhaltenen Worten seiner Tochter Gerda brieflich übermittelt: „Mein liebes Kind. Die Zeiten haben sich geändert und mit ihr die Menschen.“

Gleichwohl vermochte Alfred Landecker ebenso wie seine jüdischen Zeitgenossen damals noch nicht erkennen, was ihnen über den 9. November 1938 hinaus drohte. Für ihn wurden dabei zwei Daten zum Schicksal: der 22. Oktober 1940 und der 24. April 1942.

Im Frühsommer 1940 war Frankreich gefallen. Auf Veranlassung des Gauleiters und badischen Reichsstatthalters Wagner, der auch für die Zivilverwaltung im Elsass zuständig war, wurden die badischen, pfälzischen und saarländischen Juden, darunter an die 2000 Mannheimer Juden, in der sogenannten „Wagner-Bürckel-Aktion“ in das am Fuße der Pyrenäen liegende französische Internierungs-Lager Gurs deportiert.

Auf der sogenannten „Mannheimer Liste“ der zu deportierenden Juden findet sich auch der Name Alfred Landecker. Aber Landecker blieb am Ende von der Deportation nach Gurs, in das unbesetzte Frankreich, mithin nach Westen verschont. Warum dies so war, ist ein Rätsel. Zwar tauchte auf der Liste hinter seinem Namen mit Bleistift und in Anführungszeichen gesetzt das Wort „arisch“ auf. Aber de facto konnte Landecker weder als „arisch“ gelten, noch lebte er in einer sogenannten „Mischehe“, die ihn vor der Deportation hätte bewahren können. Seine katholische Frau Maria war damals bereits seit zwölf Jahren tot. Was die Nazi-Behörden veranlasst haben könnte, Landecker von der Deportation auszunehmen, wird vermutlich im Dunkeln bleiben.

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Das, was im Herbst 1940 noch als Verschonung gelten mochte, verkehrte sich am 24. April 1942 ins Gegenteil. An diesem Tag wurde Alfred Landecker aus seiner Wohnung in der Rheinaustraße 11 nach „Osten“ deportiert. Damit war sein Schicksal besiegelt. Wäre er, so wie ursprünglich laut Liste geplant, nach Gurs in Richtung Westen verschickt worden, hätte er wenigstens eine Chance gehabt zu überleben. Einem nicht unerheblichen Teil der nach Gurs Deportierten gelang die Flucht über die Pyrenäen nach Spanien und Portugal. Von dort aus versuchten die Fliehenden in die Vereinigten Staaten zu gelangen. Landeckers später erfolgte Deportation nach Osten aber bedeutete den sicheren Tod.

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Die letzte Spur von Alfred Landecker verliert sich im sogenannten Durchgangsgetto von Izbica bei Lublin, im Herrschaftsbereich des Generalgouvernements. Von dort führte im Rahmen der „Aktion Reinhard“ der Weg in die Vernichtungsstätten von Belzec, Sobibor und Treblinka. In welchem der beiden Lager, in Belzec oder in Sobibor, Landecker durch Ersticken ermordet wurde, wissen wir nicht – und werden es vermutlich auch nie erfahren.

Alfred Landecker war, wie fast alle Opfer der nazistischen Mordmaschine, arglos gewesen gegenüber dem, was ihn erwartete. Um diese Arglosigkeit zu verstehen, reicht es aus, die von Nazifotografen aufgenommenen Bilder der Opfer zu betrachten, vornehmlich die der letzten großen Gruppe im Rahmen der sogenannten „Endlösung“ nach Auschwitz Deportierten – der ungarischen Juden. Die auf den Fotos abgebildeten Frauen und Kinder blicken nichts ahnend in die Kamera. Auf ihren Gesichtern verweist nichts darauf, sie könnten um ihr Leben bangen.

Die Ahnungen deutscher Juden mochten düsterer gewesen sein. Schließlich durchliefen sie sukzessive und über die Jahre gestreckt alle Stufen der Entrechtung bis hin zur Deportation in die Vernichtung. Wie tief der Schock reichte, als sie aus ihrem bürgerlichen deutschen Leben gerissen wurden, lässt sich auch an der im Oktober 1940 erfolgten Deportation der Mannheimer Juden ablesen. Auf der Zugreise nach Gurs waren es gerade gänzlich assimilierte Juden christlicher Konfession, die noch auf der Eisenbahnreise Suizid begingen. Nicht die Befürchtung eines womöglich bevorstehenden Todes hatte sie in die Verzweiflung getrieben. Dass sie von den Nazis wieder zu Juden gemacht und damit aus dem Deutschtum, ihrer selbst gewählten, ihrer erworbenen Zugehörigkeit ausgestoßen worden waren, war ihnen derart unerträglich, dass sie es vorzogen, aus dem Leben zu scheiden.

Im Oktober 1941, im Zuge des sogenannten Russlandfeldzugs, im Zuge von „Barbarossa“, wurde auf Himmlers Direktive den Juden im deutschen Herrschaftsbereich in Europa die Ausreise untersagt. Von da an wurden auch die deutschen Juden in den bereits eingeleiteten Prozess der Vernichtung, der durch massenhafte Erschießungen im Osten eingeleitet worden war, einbezogen. Am 24. April 1942 wurde auch Alfred Landecker, im Oktober 1940 noch von der Deportation nach Gurs verschont, abgeholt und auf den Weg nach „Osten“ und damit in die Vernichtung verbracht.

Wir stehen heute hier zusammen, Nachkommen, Angehörige des Familienunternehmens der Reimanns, dessen problematische Geschichte im Nationalsozialismus sich paradox mit der Nachkommenschaft Alfred Landeckers vermählt, sowie Vertreter der Stiftung, die heute seinen Namen in die Welt trägt. Wir gedenken seiner, anlässlich der Verlegung eines an ihn erinnernden Stolpersteins und uns tröstet der Gedanke, dass es nicht beim „Grab in den Lüften“ hat bleiben müssen.

Dan Diner

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