Alfred Landecker Foundation: Du arbeitest am Forschungsthema Antisemitismus, unter anderem: antisemitische Kontinuitäten in unserer Gesellschaft, Verschwörungsideologien und Antisemitismus im Rap & HipHop. Welche Kernfrage treibt dich dabei am meisten um? Warum sind diese Themen besonders wichtig für dich? Wie wirken sich Verschwörungsideologien und Antisemitismus im Rap/HipHop auf den gesellschaftlichen Diskurs aus?
Jakob Baier: Mit Blick auf den Antisemitismus in der Kulturproduktion und die darum kreisenden Debatten lässt sich eine zunehmende Verschiebung der Sagbarkeitsgrenzen beobachten. Im deutschsprachigen Gangsta-Rap wird dies besonders deutlich: Antisemitismus – meist in Form von Verschwörungsmythen bis hin zur offenen Ablehnung von Jüdinnen und Juden – trat in diesem Bereich der Populärkultur nicht plötzlich auf, sondern hat sich über einen Zeitraum von etwa 15 Jahren zu einem zentralen Motiv in der Selbstinszenierung einzelner Genre-Protagonisten entwickelt. Eines unserer Forschungsprojekte an der Universität Bielefeld hat nun gezeigt, dass ein signifikanter Teil der Gangsta-Rap-Hörer für diese antisemitischen Narrative empfänglich ist. Das wirft wiederum die Frage auf, ob und inwiefern sich daraus antisemitische Gewaltpotenziale speisen. Bei einer antiisraelischen Demonstration im Mai 2021 in Gelsenkirchen versammelten sich Jugendliche und junge Erwachsene vor einer Synagoge und skandierten judenfeindliche Parolen. Hier zeigt sich eine gefährliche Entwicklung: Indem antisemitische Positionen über die Musik und soziale Medien verbreitet und normalisiert werden, sinkt die Hemmschwelle, eigene antisemitische Ressentiments offen auszuagieren. Das gilt allerdings nicht nur für die Populärkultur, sondern auch für das, was gemeinhin als „Hochkultur“ bezeichnet wird. Die documenta fifteen hat dies vor Augen geführt: In diversen Kunstmagazinen und in Teilen des Feuilletons wurde darüber räsoniert, wie viel Judenhass den Künstlern und ihren Werken zugestanden werden könne. Auch das signalisiert Menschen mit antisemitischen Neigungen: Entsprechende Äußerungen oder Taten werden im Zweifelsfall nicht sanktioniert, sondern stoßen mitunter auf Zustimmung in ganz unterschiedlichen Teilen der Gesellschaft und Öffentlichkeit.
AL: Internationaler Holocaust-Gedenktag: Als Person, die sich viel mit Antisemitismus beschäftigt, woran denkst du als Erstes? Was assoziierst du mit diesem Tag?
JB: In erster Linie verbinde ich damit meine eigene Familiengeschichte. Der jüdische Teil meiner Familie stammt aus Polen, mein Großvater überlebte als einziger aus seiner Familie das Warschauer Ghetto. Neben dem Internationalen Holocaustgedenktag am 27. Januar ist für mich daher der Jom HaShoah bedeutsam, der den Jahrestag des Aufstandes im Warschauer Ghetto 1943 markiert und die Existenz und Bedeutung jüdischer Wehrhaftigkeit ins Bewusstsein ruft. Meine Forschungsfragen resultieren somit aus einer persönlichen Verstehensnötigung: Wie entstand Antisemitismus, unter welchen gesellschaftlichen wie individuell-psychologischen Bedingungen konnte und kann er sein eliminatorisches Potenzial entfalten, und wie lässt sich dies bekämpfen?
AL: Welche Themen beschäftigen dich sonst zurzeit? Welche aktuellen Diskurse beobachtest du?
JB: In den letzten Jahren ließ sich beobachten, dass Formen der Holocaust-Relativierung in unterschiedlichen gesellschaftlichen Milieus auf wachsende Akzeptanz stoßen. Rechte „Schuldkult“-Theorien, Björn Höckes „Denkmal-der-Schande“-Rede von 2017 oder Gaulands „Vogelschiss“-Äußerung von 2018 zeigen: Auf der politischen Ebene versucht die AfD seit einigen Jahren, geschichtsrevisionistisches Gedankengut zu verbreiten und – damit verbunden – ein Bedürfnis nach Schuldentlastung in einem signifikanten Teil der deutschen Bevölkerung politisch nutzbar zu machen. Im Zuge der Corona-Pandemie wurde sichtbar, auf welchen gesellschaftlichen Resonanzraum diese geschichtsrevisionistische Agitation trifft: Zum Zweck der Selbstviktimisierung hefteten sich Anhängerinnen und Anhänger der Querdenker-Bewegung bei Demonstrationen einen sogenannten „Judenstern“ an, verglichen bekannte Virologen mit NS-Verbrechern und scheuten nicht davor zurück, gemeinsam mit Vertretern der extremen Rechten auf die Straße zu gehen.
Aber auch in linken, vermeintlich progressiven Milieus erfahren geschichtsrelativierende und antisemitisch aufgeladene Positionen eine Normalisierung: Auf der documenta fifteen wurden Kunstwerke gezeigt, in denen der jüdische Staat Israel mit dem NS-Staat gleichgesetzt wird. Ähnliche Aussagen enthält das Theaterstück „Vögel“, das im Feuilleton äußerst unkritisch und vielfach sehr lobend besprochen wurde. Zudem finden sich solch geschichtsrelativierenden Formen der Täter-Opfer-Umkehr bereits seit Jahren in der Agitation von Anhänger:innen der antiisraelischen Boykottbewegung BDS. Zu ihr bekennen sich nicht nur berühmte Musikerinnen und Musiker, sondern auch einige documenta-Künstlerinnen und Künstler – zum Teil aus dem Umfeld des Kuratorenteams.
AL: Welche Elemente davon bereiten dir am meisten Sorgen und warum?
JB: Wir erleben derzeit das Ende der Zeitzeugenschaft. Zweifellos gibt es eine Vielzahl von Initiativen, die Zeitzeugenberichte von Opfern der NS-Herrschaft bewahren und der Öffentlichkeit zugänglich machen. Dennoch zeigt sich: In einer Zeit, in der die letzten Überlebenden sterben, werden geschichtsrelativierende Positionen immer selbstbewusster und lauter artikuliert. Die multidirektionalen
Angriffe auf die Erinnerungskultur (RIAS) kommen aus unterschiedlichen politischen Milieus. Die Geschichtsrelativierung von rechten Akteuren ist das erwartbare Übel einer neuen Welle von Populismus und Nationalismus weltweit. Die aktuellen öffentlichen Debatten über den Stellenwert der Shoah in der Geschichtspolitik zeigen jedoch, dass auch von eher linksliberalen Milieus – und auch von bedeutsamen Teilen der Wissenschaft – fragwürdige Impulse ausgehen. Im Zuge des sogenannten „Historikerstreits 2.0“ polemisierten einzelne Vertreter der Postkolonialen Studien sowohl gegen eine kritische Auseinandersetzung mit der Shoah als auch gegen gesellschaftliche Formen des Gedenkens. Im Zuge dessen wurde eine vermeintlich „von oben“ aufoktroyierte Gedenkkultur kritisiert und dabei ignoriert, dass sich ein Großteil der Initiativen zur Auseinandersetzung mit der Shoah in den vergangenen Jahrzehnten aus der sog. Zivilgesellschaft entwickelte und mitunter gegen teils massive politische Widerstände durchgesetzt wurde.
AL: Welche Reaktion würdest du dir von der Politik und Gesellschaft auf diese Entwicklungen erhoffen?
JB: Die erinnerungspolitischen Debatten verdeutlichen, dass eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit der Shoah ein Verständnis von der Geschichte und Gegenwart des Antisemitismus erfordert. Zweifellos ist politisch-historisches Faktenwissen über die Shoah unabdingbar. Es bleibt jedoch die Frage, weshalb der Antisemitismus die Shoah überdauert. Um dies zu verstehen, bedarf es eines grundlegenden Wissens über die psychischen Funktionen antisemitischer Ressentiments wie auch die gesellschaftlichen Bedingungsfaktoren für die Entstehung antisemitischer Bewegungen.