Ein politisch heißes Eisen. Interdisziplinärer Ansatz im Umgang mit Antisemitismus


Um ihren Gegenstand unverkürzt zu erfassen, muss Antisemitismusforschung vergleichen – und differenzieren.

Antisemitismusforschung ist, entgegen landläufigen Vorstellungen, kein akademisches Fach wie Germanistik oder Philosophie. Wenn man sich wissenschaftlich mit Antisemitismus beschäftigt, so versucht man nicht mehr und nicht weniger als ein Phänomen zu erklären, dass sich zeitlich über mehr als zweitausend Jahre erstreckt und sich räumlich mittlerweile über den gesamten Globus verteilt – wenngleich mit einem klaren Schwerpunkt in Europa, im sogenannten christlichen Abendland, das bekanntlich erst vor ein paar Jahren in „christlich-jüdisch“ umgetauft wurde. Daraus ergibt sich zwangsläufig, dass es sich hierbei um ein Querschnittsthema handelt, das nur interdisziplinär bearbeitet und verstanden werden kann. Sozial- und Geschichtswissenschaften, Literatur und Philosophie, Theologie und Jura, Psychologie und Anthropologie: Kolleginnen und Kollegen aus all diesen Fächern analysieren weltweit antisemitische Phänomene, streiten sich über Bezeichnungen und Definitionen, über die Validität von Quellen und Argumenten, von Zugängen und Hypothesen. So weit, so normal. Was dieses Thema jedoch von anderen unterscheidet, ist sein enormer Politisierungsgrad, seine Instrumentalisierbarkeit, sein identitätsstiftendes Potential. All dies ist keineswegs auf Deutschland beschränkt, entfaltet jedoch hier, im Land der Täter, eine ganz spezifische und emotional oftmals hochaufgeladene Wirkung.

Entweihung eines jüdischen Friedhofs durch Nazis 1965 in Großbritannien

So ist es kein Zufall, dass die einzige wissenschaftliche Einrichtung hierzulande in diesem Feld, das Zentrum für Antisemitismusforschung an der TU Berlin, ursprünglich von seinem Spiritus Rector, dem jüdischen Historiker und Überlebenden Joseph Wulf, als Holocaust-Forschungszentrum intendiert war. Nach seinem Suizid gelangte dieses über lange, einsame Jahre erkämpfte Projekt in die Hände des gerade frisch berufenen Historikers Reinhard Rürup. Gemeinsam mit dem damaligen Vorsitenden der Jüdischen Gemeinde zu Berlin und Präsidenten des Zentralrats der Juden, Heinz Galinski, setzte dieser die Realisierung einer solchen auch im euro- päischen Maßstab einzigartigen Institution an der TU Berlin durch.

Zugleich erweiterte man den wissenschaftlichen Blick des Zentrums auf die Entstehungsbedingungen des Holocausts und damit auf den Antisemitismus. Schon für den ersten Direktor, Herbert A. Strauss, war es selbstverständlich, dass man auch andere Ausgrenzungsformen in den Blick nahm. Alles andere wäre ihm, dem Berliner Überlebenden der deutschen Mordpolitik, der sich, wie viele andere jüdische Emigranten, in den Vereinigten Staaten in den sechziger Jahren im antirassistischen Kampf der Bürgerrechtsbewegung engagiert hatte, nicht nur unglaubwürdig, sondern völlig absurd erschienen.

Darstellung des "Wandernden Juden", einer Figur aus der christlichen Mythologie, der unterstellt wurde, sie habe sich während der Kreuzigung über Jesus lustig gemacht

Antisemitische Vorurteile und andere Formen der Diskriminierung

Aber auch wissenschaftlich ist diese vergleichende Perspektive nicht nur eine sinnvolle Ergänzung, sondern zwingend notwendig, wenn man das antisemitische Ressentiment, seine Spezifika und Unterschiede zu anderen Ausgrenzungs- und Diskriminierungsformen verstehen möchte. Dies gilt für die Antike und ihre Anfeindungen gegen Juden und Christen ebenso wie für das frühneuzeitliche Spanien, das Juden und Muslime nicht nur vertrieb, sondern deren seit Generationen getaufte Nachkommen noch bis ins neunzehnte Jahrhundert hinein von staatlichen Ämtern fernhielt. Und es gilt auch für die Neuzeit, als sich die Verfechter von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zugleich intensiv bemühte zu erklären, warum Juden und Frauen ebendiese gleichen Rechte nicht gewährt werden konnten.

Es war dieses große Versprechen der Aufklärung, das die Kämpfe um Rechte und gleiche Lebensbedingungen auf eine neue Stufe hob, denn seither versammeln sich die Gegenkräfte hinter immer neuen Fahnen, wobei jedoch eine Ingredienz nie fehlt: der Antisemitismus. Die israelische Historikerin Shulamit Volkov hat vor vielen Jahren den Terminus „kultureller Code“ geprägt, um genau dies zu beschreiben: Antisemitismus diente im 19. und 20. Jahrhundert als politische Klammer und Erkennungszeichen für jene, die eine prinzipielle Ungleichheit der Menschen postulierten, seien es nun Juden oder Frauen, Homosexuelle oder Kolonisierte. Und daran hat sich auch im 21. Jahrhundert nichts Wesentliches geändert, wie nicht zuletzt die Anschläge der letzten Wochen und Monate belegen, bei der die Täter ihren gesammelten Hass auf Juden, Muslime, Frauen und demokratische Politiker in Wort und Tat zum Ausdruck brachten.

Umgekehrt bedeutet dies, dass, egal ob wir uns mit Antisemitismus oder „gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ beschäftigen, mit antimuslimischem Rassismus oder mit Homophobie.

Wir uns dabei immer auf ein bestimmtes, vor zweihundertfünzig Jahren geprägtes Menschenbild berufen, das zugleich das Fundament unseres Grundgesetzes bildet.

Dass dieser vergleichende wissenschaftliche Blick dabei nicht „gleichsetzen“ bedeutet, ist so banal, dass man sich fast schämt, es noch einmal betonen zu müssen. Im Gegenteil, gerade in der Zusammenschau werden die Unterschiede sichtbar, im Falle des Antisemitismus zum Beispiel seine enge Verknüpfung mit der Religion: Juden als das „Original“, gegen das sich die beiden nachfolgenden monotheistischen Religionen und hier vor allem das Christentum abzugrenzen suchten.

Hierbei spielte vor allem die direkte Konkurrenz zwischen Judentum und Christentum in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung eine Rolle, die zu immer wieder neuen Wellen von Verfolgung, Hass und Mord führte. Juden wurden als Gottesmörder diffamiert, und ihr Überleben als „auserwähltes Volk“ – der christlichen Heilsbotschaft zum Trotz – ließ sich nur durch „heimliche Macht“ und Verbundenheit mit dem abgrundtief Bösen erklären. Diese Vorstellungen „jüdischer Macht“ transformierten sich in der Moderne zu den klassischen Verschwörungstheorien, die Juden als alles beherrschende, heimlich hinter den Kulissen der Welt die Fäden in Wirtschaft, Politik und Medien ziehende, graubärtige Marionettenspieler imaginieren und hassen – im Gegensatz etwa zu anderen Vorstellungen von rassistischer Differenz, die ihre Objekte gemeinhin als kulturell, sozial und moralisch unterlegen verachten.

Rassismus und Antisemitismus

Allerdings ist zugleich die Verwobenheit von antisemitischem und rassistischem Denken kaum zu übersehen. Man denke etwa an aktuelle Phantasmagorien wie den „Großen Austausch“, demzufolge es „die Juden“ sind, die Europa durch „Umvolkung“ zu schwächen trachten, indem sie fortpflanzungsfreudige Migrantenströme auf den Kontinent lenken und so als willkommener Nebeneffekt zugleich für Israel den Nahen und Mittleren Osten von Muslimen säubern. So absurd dies auch klingen mag, muss man doch feststellen, dass manche Vorstellungen von angeblicher muslimischer Macht und Einfluss sich mittlerweile strukturell den klassischen Verschwörungstheorien durchaus annähern, wobei sie jedoch im Unterschied zu diesen auf den islamistischen Terrorismus verweisen können als Quasibeleg für eine Bedrohung, die plötzlich von allen ausgeht, die ähnliche Namen oder, siehe Hanau, auch nur schwarze Haare haben.

In Berlin versammeln sich Tausende, um den Opfen des rassistischen Anschlags in Hanau zu gedenken

Dies sind wesentliche Diskussionspunkte in jenem aufgeheizten politischen Feld, in dem sich diejenigen bewegen, die sich mit Antisemitismus beschäftigen. Selbstverständlich gibt es auch unter uns eine große Bandbreite von grundsätzlichen Haltungen, Einschätzungen und Positionen. Was aber das wissenschaftliche Arbeiten von tagespolitischer Instrumentalisierung unterscheidet oder besser: unterscheiden sollte, ist, neben so etwas Banalem wie den entsprechenden (Sprach-)Kenntnissen, um die eigenen Quellen auch lesen und verstehen zu können, die Fähigkeit zu Selbstreflexion und dialektischem Denken. Oder, um es sehr einfach zu sagen: Menschen sind auf unterschiedliche Weise von Diskriminierung betroffen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass sie nicht zugleich auch selbst diskriminieren können oder wollen: Schwule können auch rassistisch sein, Muslime auch antisemitisch, Juden auch homophob, und Frauen sind keineswegs immer die besseren Menschen. Das ist eigentlich nicht so schwer zu verstehen, wenn man es denn verstehen möchte.


Partner

Stefanie Schüler-Springorum

Vize-Vorsitzende des Wissenschaftlichen Kuratoriums

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