Dr. Renana Keydar, Direktorin des Landecker Lab for the Computational Analysis of Holocaust Testimonies an der Hebräischen Universität Jerusalem, entwickelt computergestützte Methoden, um diese Herausforderung zu bewältigen. Ihr Lab hat ein spezielles Sprachmodell entwickelt, das Erzählbögen in den Zeugnissen von Holocaust-Überlebenden nachverfolgt, so individuelle Stimmen bewahrt und gleichzeitig kollektive Erinnerungsmuster analysiert. Dr. Keydar leitet auch die Entwicklung der digitalen Infrastruktur für Edut 710, eine zivilgesellschaftliche Initiative, die über 1.600 Augenzeugenberichte von Überlebenden, Rettern und Ersthelfern nach dem Massaker vom 7. Oktober 2023 dokumentiert.
Im Gespräch mit uns legt Dr. Keydar dar, wie digitale Geisteswissenschaften, künstliche Intelligenz und Holocaust-Bildung zusammenwirken, und erklärt, wie ethische Grundsätze die Architektur ihres Modells des sogenannten „distant listening” prägen.
Wie können digitale Technologien dazu beitragen, die Erinnerungen und Zeugnisse von Holocaust-Überlebenden für künftige Generationen zu bewahren?
Renana Keydar: Der Übergang in eine Zeit nach dem Tod der letzten Überlebenden fällt mit einem breiteren Übergang von analogen zu digitalen Medien zusammen, was sowohl ethische als auch technologische Herausforderungen mit sich bringt. Die dringende Frage ist nicht mehr nur, wie die Zeugnisse der Holocaust-Überlebenden bewahrt werden können, sondern wie zehntausende von ihnen als kollektive Erinnerungen sinnvoll angehört werden können. Im Landecker Lab for the Computational Analysis of Holocaust Testimonies an der Hebräischen Universität konzentriere ich mich auf die Entwicklung eines Modells des „distant listening“. Dies ist ein Ansatz, der fortschrittliche computergestützte Methoden einsetzt, um sich mit diesem riesigen narrativen Korpus auseinanderzusetzen, ohne ihn auf abstrakte Daten zu reduzieren.
Im Gegensatz zu herkömmlichen computergestützten Methoden, die dazu neigen, Texte in isolierte Einheiten zu zerlegen, versucht unser Modell, den Erzählfluss von Zeugenaussagen als dialogische, menschliche Begegnung zu erhalten. Es hört sich eine große Menge an Zeugnissen an und würdigt dennoch jede Stimme als einzigartig und unersetzlich. In diesem Sinne ist die Technologie nicht nur ein Werkzeug, sie wird zu einer moralischen Infrastruktur für die Erinnerung, die es uns ermöglicht, die Vielzahl an Zeugen zu hören, ohne den Einzelnen zum Schweigen zu bringen.
Sie haben ein umfangreiches Sprachmodell entwickelt, das speziell auf die Analyse von Zeitzeugenberichten ausgerichtet ist. Können Sie erklären, wie es funktioniert und was es von allgemeineren Modellen unterscheidet?
RK: Unser Modell verarbeitet nicht nur Zeugnisse – es hört ihnen zu. Es wurde auf der Grundlage eines Korpus von Zeugenaussagen von Holocaust-Überlebenden entwickelt und basiert auf dem Verständnis, dass es sich nicht nur um Texte, sondern um menschliche Begegnungen handelt: dialogisch, nichtlinear und zutiefst emotional.
Anstatt die Aussagen auf isolierte Schlüsselwörter zu reduzieren, verfolgt das Modell den narrativen Bogen, die wechselnden Themen, emotionalen Töne und strukturellen Übergänge, die bestimmen, wie sich Erinnerungen entfalten. Es bildet die „typische“ Zeugnisstruktur ab und identifiziert gleichzeitig Abweichungen, also Ausreißergeschichten, die vertraute Muster durchbrechen. Diese doppelte Fähigkeit ermöglicht es uns, sowohl das Gemeinsame als auch das Außergewöhnliche in der Erinnerung an den Holocaust aufzuspüren und die Geschichten hervorzuheben, die sonst in der Masse untergehen würden.
Wie gehen Sie mit den ethischen Herausforderungen um, die sich aus dem Einsatz von KI zur Interpretation zutiefst persönlicher und traumatischer Erlebnisse ergeben?
RK: Im Zentrum der Zeitzeugenberichte steht die moralische Forderung, gehört zu werden und in Erinnerung zu bleiben. Diese Forderung verschwindet nicht, wenn wir uns Computern zuwenden, nein, sie wird sogar noch verstärkt. Wir haben unser Modell auf einer Ethik des Zuhörens als Anerkennung aufgebaut. Das bedeutet, dass wir die Zeugenaussagen als menschliche Geschichte würdigen und sie nicht auf Datenpunkte reduzieren.
Wir stellen die Zeugenaussage als ein Gespräch dar – ein dynamisches Ereignis zwischen Interviewer und Überlebender – und nicht als einen statischen Textblock. Unser Ziel ist es nicht nur, die Integrität dieser Erzählungen zu schützen, sondern auch, die Technologie zu nutzen, um ethisch und in großem Umfang auf sie reagieren zu können.
Auf welche Weise können Large Language Models (LLM) zur Erinnerung an den Holocaust und zur Bildung beitragen?
RK: Large Language Models (LLM) können eine Brücke zwischen dem archivierten Gedächtnis und zukünftigen Generationen schlagen. Sie ermöglichen es uns, riesige Sammlungen von Zeugnissen zu durchforsten und Geschichten zu entdecken, von denen wir nicht einmal wussten, dass wir danach fragen sollten. Pädagogen und Studierende können Fragen wie „Wie sprechen Überlebende über Hunger?“ oder „Wie klingt Erinnerung über Generationen hinweg?“ erforschen und zwar nicht anhand einzelner Beispiele, sondern über tausende von Stimmen hinweg.
Unser Modell unterstützt tiefgreifende semantische Abfragen, die eine sinnvolle Beschäftigung statt einer oberflächlichen Suche ermöglichen. Es macht die Erinnerung über das Gedenken hinaus zu einer aktiven, dynamischen Untersuchung, die sich immer auf die Stimmen derjenigen stützt, die die Gräueltaten erlebt haben.
Ihr Lab wendet auch computergestützte Werkzeuge auf rechtliche Texte an, um neue Erkenntnisse zu gewinnen. Wie tragen die Geisteswissenschaften zur Entwicklung von Large Language Models bei, und warum ist die interdisziplinäre Zusammenarbeit bei dieser Arbeit so wichtig?
RK: Die Geisteswissenschaften bestimmen, wie wir Fragen formulieren. Recht, Literatur und Ethik helfen uns, Sprache nicht nur als Daten zu behandeln, sondern als ein Medium der Macht, des Traumas und der Anerkennung. Mein Hintergrund in Recht und Erzähltheorie beeinflusst, wie wir unsere Modelle strukturieren und ihre Ergebnisse interpretieren. Er stellt auch sicher, dass wir uns der Bedeutung unserer Arbeit bewusst sind - nicht nur der technischen Genauigkeit, sondern auch der Gerechtigkeit, der Empathie und der Perspektive.
Die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Informatik, Geschichte, Ethik und Menschenrechten verhindert, dass sich die von uns entwickelten Instrumente von den Realitäten, denen sie dienen sollen, abkoppeln. Nur durch diese Synthese können Large Language Models nicht nur Werkzeuge für mehr Effizienz, sondern auch für zwischenmenschliche Fürsorge werden.
Wie sehen Ihre Zukunftspläne für das Lab und die Ausrichtung Ihrer Forschung aus?
RK: Meine zukünftige Arbeit geht in zwei parallele Richtungen. Erstens erweitere ich unser Holocaust-Zeugnis-Projekt, um eine umfassende, KI-gestützte Typologie von Trauma-Erzählungen zu entwickeln. Dies baut auf unserem Modell des "distant listening" auf, das eine groß angelegte und dennoch ethisch sensible Auseinandersetzung mit den Zeugnissen von Überlebenden ermöglicht. Ziel ist es, gemeinsame Strukturen, erzählerische Ausreißer und Schweigen zu identifizieren, dabei die Einzigartigkeit jeder Erzählung zu bewahren und gleichzeitig das kollektive Gedächtnis sichtbar zu machen, das sie bilden.
Zweitens gehöre ich zum Leitungsteam von Edut 710, einer zivilgesellschaftlichen Initiative, die unmittelbar nach den Hamas-Anschlägen vom 7. Oktober 2023 gegründet wurde, um die Aussagen von Überlebenden in Echtzeit zu dokumentieren. Gemeinsam mit Filmemachern, Therapeuten, Historikern und digitalen Geisteswissenschaftlern haben wir über 1.600 Berichte aus erster Hand aufgezeichnet: von Überlebenden des Nova-Festivals bis hin zu beduinischen Rettern und Ersthelfern.
In Zusammenarbeit mit meinem Team im Landecker Lab an der Hebräischen Universität leite ich die Konzeption und Entwicklung der digitalen Infrastruktur von Edut 710: eine traumasensible, mehrsprachige, KI-gestützte Plattform zur Erforschung dieser Zeugnisse. Im Gegensatz zu herkömmlichen Archiven ist Edut 710 semantisch und emotional aufgebaut - die Benutzer können die Zeugnisse nach Emotionen, Erfahrungen oder narrativer Bedeutung und nicht nur nach Metadaten durchsuchen. Eine interaktive Erinnerungskarte wird nachzeichnen, wie Geschichten über Raum, Zeit und Gemeinschaft hinweg miteinander verbunden sind. Ethische Grundsätze – die Zustimmung der Überlebenden, Selbstbestimmung und langfristige Bewahrung – sind in jeder Ebene integriert.
Dies ist das erste Archiv seiner Art, das während eines sich ausbreitenden nationalen Traumas aufgebaut wird. Es ist eine lebendige Blaupause dafür, wie Zeugnisse fair und gerecht behandelt werden können und wie eine Brücke zwischen unmittelbarer Dokumentation und langfristiger Erinnerung geschlagen werden kann. Das Archiv wird damit zu einem Modell für zukünftige Krisen. Bei beiden Projekten geht es mir darum, digitale Werkzeuge nicht nur für den Zugang oder die Analyse, sondern für ein tiefgehendes, verantwortungsvolles Zuhören - in großem Umfang und mit Sorgfalt - zu nutzen.