Israels Verfassungskrise


Barak Medina ist Inhaber des Alfred Landecker/ Benjamin B. Ferencz Lehrstuhls an der Hebräischen Universität Jerusalem.

Die Lage in Israel ist besorgniserregend. Im 75. Jahr seit seiner Gründung befindet sich das Land in einer schweren Identitätskrise, die unsere Gesellschaft spaltet. Der unmittelbare Grund für diese Spaltung ist die geplante Justizreform der neuen, Ende Dezember 2022 gebildeten Regierung.

Sollte die Regierung ihre Pläne durchsetzen, würde dies vermutlich die De-facto-Abschaffung der gerichtlichen Kontrolle der Regierung und der Knesset, unseres Parlaments, bedeuten. Um dieses Ziel zu erreichen, soll allein die Regierung zur Ernennung von Richtern befugt sein; zudem soll die richterliche Überprüfung von Rechtsvorschriften stark eingeschränkt werden. Die Regierung verfügt zwar über eine stabile Mehrheit in der Knesset, ihre Initiative stößt jedoch auf einen beispiellosen öffentlichen Widerstand, weshalb der Ausgang dieses Vorhabens nur schwer vorherzusagen ist. Im Mittelpunkt steht eine Debatte über die Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs Israels in den letzten Jahrzehnten, vor allem seit der sogenannten Verfassungs- oder Menschenrechtsrevolution von 1992. Jetzt wird versucht, eine Konterrevolution herbeizuführen.

Unmittelbar verfolgt die Regierung das übliche Ziel von populistischen Regimes – die Koalition will die Kontrolle über die Wahlen erlangen, um dadurch ihre Herrschaft zu sichern. Doch dahinterstehen tiefere Beweggründe, die mit den von der Regierung angestrebten und derzeit als verfassungswidrig angesehenen Maßnahmen zusammenhängen. Die meisten dieser Maßnahmen haben gemein, dass sie Israel als jüdischen und demokratischen Staat bezeichnen.

Die derzeitige Debatte in Israel dreht sich genau um diese Frage: Was bedeutet es, dass Israel ein jüdischer und demokratischer Staat ist? Um die Kluft zwischen den Lagern zu verstehen, müssen wir zwei historische Zäsuren betrachten: die Staatsgründung im Jahr 1948 und die sogenannte Verfassungsrevolution im Jahr 1992. Letztere bildet den wichtigsten Hintergrund für den aktuellen Konflikt.

Der Ausgangspunkt unserer Betrachtung ist das Jahr 1948.

Die Gründung Israels geht auf die sechs Monate zuvor verabschiedete UN-Resolution zurück, wonach im Land Palästina zwei Staaten gegründet werden sollten, ein arabischer und ein jüdischer. Die UN-Resolution verlangte von den beiden Staaten eine Erklärung, der zufolge sie sich trotz ihrer unterschiedlichen nationalen Identität – eine arabische, eine jüdische – den Idealen einer freiheitlichen Demokratie verpflichtet fühlen, insbesondere dem Schutz der Grundfreiheiten, einschließlich der Religionsfreiheit, und der Gleichbehandlung aller Bürger, ob Juden oder Araber. In der Gründungsphase Israels wurde die UN-Resolution zumindest als politisch verbindlich angesehen, weshalb die Unabhängigkeitserklärung Israels diesen Anforderungen entsprach. Vereinfacht gesagt legte die Erklärung fest, dass Israel nur im Hinblick auf seine Einwanderungspolitik jüdisch ist, die darauf abzielt, allen Juden das sogenannte Rückkehrrecht zu gewähren. Diese Einwanderungspolitik sollte eine erhebliche jüdische Mehrheit unter den Bürgern Israels schaffen. Die Erklärung legt ausdrücklich die vollständige politische und soziale Gleichheit aller Bürger sowie den Schutz aller Freiheiten fest.

Die UN-Resolution verlangte, dass eine Verfassung erlassen wird, die dieselben Bestimmungen enthält. Die Anfang 1949 gewählte Verfassungsgebende Versammlung beschloss jedoch, keine Verfassung zu verabschieden. Das Gremium entschied, dass das Parlament Grundgesetze erlässt, von denen jedes einem Kapitel der künftigen Verfassung entspricht, die nach Abschluss der Verabschiedung aller Kapitel gebildet wird. Es wurde offen gelassen, mit welcher Mehrheit die Grundgesetze erlassen werden sollen und welchen formalen Status sie haben, bevor sie in der Verfassung vereint werden. Die Knesset hat eine Reihe von Grundgesetzen erlassen, die sich hauptsächlich mit institutionellen Fragen befassen, jedoch nicht festlegen, welche politischen Maßnahmen zulässig sind. Bis 1992 wurde kein Grundgesetz über die Menschenrechte erlassen.

Wichtig für unsere aktuelle Diskussion sind die Fragen, die mit dem Wesen Israels als jüdischem Staat zusammenhängen.

Der Hauptgrund dafür, dass 1949 keine Verfassung geschaffen wurde, ist eben diese Frage, die in den im Laufe der Jahre erlassenen Grundgesetzen nicht behandelt wurde.

Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die Regierungen es vermieden haben, sich ausdrücklich dazu zu äußern, was unter einem jüdischen Staat zu verstehen ist. In der Zeit von 1948 bis 1992 spiegelten die politischen Entscheidungen und Maßnahmen häufig die Auffassung wider, ein jüdischer Staat legitimiere bestimmte Formen der Diskriminierung der arabischen Minderheit und die Durchsetzung religiöser Normen durch den Staat. Die Regierung und die Knesset achteten jedoch tunlichst darauf, diese Auffassung nicht durch ein Grundgesetz zu verankern. So wollten sie vermeiden, dass diese Interpretation eines jüdischen Staates Verfassungsrang erhält. Einerseits lag anscheinend auf der Hand, dass es vor der internationalen Gemeinschaft und teilweise auch im Inland inakzeptabel wäre, in einer Norm mit Verfassungsrang ausdrücklich festzulegen, dass die Regierung Juden und Arabern ungleich behandeln oder religiöse Normen durchsetzen darf. Gleichzeitig konnten es sich die Regierung und die Knesset leisten, diese Ansicht nicht zu äußern, weil das Gericht keine wesentliche gerichtliche Kontrolle ausübte. Dem Gericht fehlte dafür die formale Grundlage, und so konnte sich die Regierung auf die Unklarheit darüber berufen, was ein jüdischer Staat eigentlich sei, und gleichzeitig weiterhin politische Entscheidungen treffen, die eine inakzeptable Auslegung der Bedeutung eines jüdischen Staates erkennen lassen.

Auf diese Weise hat Israel von 1948 bis 1992 eine gut funktionierende Demokratie mit freien Wahlen und friedlichen Machtwechseln zwischen den politischen Parteien aufrechterhalten. Die Menschenrechtsbilanz des Landes war jedoch ungenügend. Vor allem seine verfassungsmäßige Identität als jüdischer Staat hat häufig zu einem politischen Vorgehen geführt, das die Interessen seiner jüdischen Bürger über diejenigen seiner arabisch-palästinensischen Bürger stellt, sei es bei der Zuteilung von öffentlichen Mitteln oder bei anderen Maßnahmen, und das zentrale Aspekte des Grundsatzes der Trennung von Staat und Religion verletzt. Dazu gehörte die Festlegung von verbindlichen religiösen Normen in Fragen der Heirat und Scheidung, die Ungleichbehandlung von Frauen bei staatlich angebotenen religiösen Dienstleistungen und vieles mehr.

Dies änderte sich im Jahr 1992. Die Knesset verabschiedete das Grundgesetz über die Menschenwürde und Freiheit, das die Regierung und die Knesset zur Achtung der Menschenrechte verpflichtet. Wie üblich vermied es die Knesset, das heiße Eisen anzupacken, nämlich die Auslegung des Begriffs „jüdischer Staat“. Die Parlamentarier wichen dem Thema aus, indem sie erstens das Recht auf Gleichbehandlung sowie auf Religionsfreiheit und Freiheit von Religion nicht in das Grundgesetz aufnahmen, sondern nur einen allgemeinen Begriff „das Recht auf Menschenwürde“; und zweitens, indem sie nur absichtlich vage festlegten, dass die Menschenrechte nur durch Gesetze verletzt werden dürfen, die mit Israels Werten als jüdischem und demokratischem Staat im Einklang stehen, ohne zu erklären, was damit gemeint ist.

Mit der Verabschiedung des Grundgesetzes über die Menschenwürde und Freiheit wurde das Gericht dazu ermächtigt, nach Art eines Verfassungsgerichts eine gerichtliche Überprüfung vorzunehmen.

Das Gericht beschloss, das Recht auf Menschenwürde so auszulegen, dass es die Rechte auf Gleichbehandlung und Religionsfreiheit einschließt, da selbstverständlich sei, dass es ohne diese Rechte keine Menschenwürde geben könne. Infolgedessen hatte das Gericht keine andere Wahl, als zu definieren, was ein jüdischer Staat ist. Dies ist unerlässlich, um Fälle zu klären, in denen die Knesset und die Regierung gegen Grundrechte verstoßen, und um festzustellen, ob Israels Wesen als jüdischer Staat diese Verstöße rechtfertigen kann. Um nur zwei Beispiele zu nennen: Die Regierung hat beschlossen, die Einfuhr von nicht koscherem Fleisch zu verbieten, und sie hat beschlossen, öffentliches Land für den Bau eines Dorfes zuzuteilen, das nur Juden offensteht. Bei der Prüfung dieser Fälle musste sich das Gericht mit dem Argument der Regierung befassen, dass diese beiden Maßnahmen aufgrund der Identität Israels als jüdischer Staat gerechtfertigt seien.

In beiden Fällen hat das Gericht die Maßnahmen für rechtswidrig erklärt. Noch wichtiger ist, dass das Gericht, das schließlich dazu verpflichtet ist, seine Entscheidungen zu begründen, eine allgemeine Definition zu der Frage geben musste, was ein jüdischer und demokratischer Staat ist. Die Antwort war einfach und stand in der Tat bereits fest: Es war dieselbe Antwort, die bereits im UN-Beschluss von 1947 und in der Unabhängigkeitserklärung von 1948 gegeben wurde. Das Gericht entschied, dass Israel sich voll und ganz freiheitlichen Werten verschrieben hat und dass das Jüdische des Staates es rechtfertigen kann, in der Einwanderungspolitik nur Juden zu bevorzugen, nicht jedoch eine Ungleichbehandlung von Bürgern aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit. Der Staat darf auch jüdischen nationalen Symbolen einen Platz im öffentlichen Raum einräumen, darf aber keine religiösen Normen durchsetzen.

Obwohl diese neue Auslegung nicht rückwirkend angewandt wurde, um Gesetze, die vor 1992 erlassen wurden, für ungültig zu erklären, führte sie zu einer Verfassungsrevolution. Sie hat Israels Menschenrechtsbilanz erheblich verbessert. Die Besetzung des Westjordanlands stellt nach wie vor einen Verstoß gegen demokratische Grundwerte dar, aber in Israel selbst ist Israel, soweit eine solche Unterscheidung möglich ist, zu einer gut funktionierenden freiheitlichen Demokratie geworden.

Diese Rechtsauffassung eines jüdischen Staates wurde von der Knesset und den in den 30 Jahren seit 1992 amtierenden Regierungen akzeptiert.

Dies lag zum Teil daran, dass die Entscheidung nicht rückwirkend galt und dass das Gericht diese Grundsatzentscheidung nur in sehr begrenztem Umfang umgesetzt hat. Darüber hinaus, und damit gelangen wir wieder am Ausgangspunkt an, wird die Regierung de facto daran gehindert, die Auslegung des Gerichts ausdrücklich abzulehnen und erst recht daran, ein Grundgesetz zu erlassen, das dem widerspricht. Am nächsten kam die Knesset einem solchen Schritt mit der Verabschiedung des Grundgesetzes „Israel – Nationalstaat des jüdischen Volkes“ im Jahr 2018, das hauptsächlich deklaratorischen Charakter hat. Das Gesetz enthält jedoch keine ausdrückliche Bestimmung, die eine Ungleichbehandlung der arabischen Minderheit oder die Durchsetzung religiöser Normen rechtfertigt.

Zum Wandel kam es mit der Bildung der aktuellen Koalition Ende 2022. Die Likud-Partei, die früher zur rechten Mitte gezählt wurde, hat eine Koalition mit rechtsradikalen Parteien und den Vertretern der ultraorthodoxen Juden gebildet. Diese Parteien haben sich zum Hauptziel gesetzt, neu zu definieren, was ein jüdischer Staat ist. Interessanterweise vermeidet die Regierung selbst jetzt, mit Unterstützung dieser recht gleichgesinnten Koalition, den direkten Weg zu nehmen – nämlich ein Grundgesetz zu erlassen, das die nicht-liberale Version dessen, was unter einem jüdischen Staat zu verstehen ist, festlegt. Es gibt immer noch Sachzwänge, die sie daran hindern, zum Teil aufgrund der Einschätzung, dass dieser Schritt zumindest für viele Likud-Anhänger zu weit ginge, und ein solcher Schritt zusammen mit den Anhängern der Opposition mit einem heftigen und wirksamen internen Protest beantwortet würde. Die Regierung wird auch durch internationalen Druck abgeschreckt, vor allem durch den Einfluss der USA, aber auch Deutschlands.

Der alternative Weg, den die Regierung wählte, war der Versuch, die vor 1992 bestehende Ordnung wiederherzustellen. Wird die Möglichkeit einer gerichtlichen Überprüfung beseitigt, besteht keine dringende Notwendigkeit mehr, den Begriff des jüdischen Staates neu zu definieren. Sollte dieser Versuch erfolgreich sein, wird die Regierung in der Lage sein, politische Maßnahmen zu ergreifen, die ihrer bevorzugt illiberalen Auslegung entsprechen, ohne dies ausdrücklich angeben zu müssen. Die Kampagne der Regierung für die Justizreform lässt diese inhaltliche Frage bereits völlig außer Acht und konzentriert sich ausschließlich auf institutionelle Aspekte, Formvorschriften für die Ernennung von Richtern und die Rechtmäßigkeit der richterlichen Überprüfung von Gesetzen, als ob es sich dabei um eine abstrakte Frage handeln würde, wobei die tatsächlichen Folgen eines solchen Schrittes nicht berücksichtigt werden.

Zum Glück hat die Protestbewegung schnell erkannt, was auf dem Spiel steht, und darauf bestanden, die Motive hinter den Plänen der Regierung aufzuzeigen.

Der Hauptaufruf der Protestbewegung lautet: „Wir stehen treu zu den Prinzipien der Unabhängigkeitserklärung“ und bezieht sich damit auf die liberale Interpretation eines jüdischen Staates.

Es ist schwer vorherzusagen, wohin wir uns bewegen. Auf der einen Seite hat die Protestbewegung die Gesetzesvorlage der Regierung äußerst wirksam blockiert. In einer Umfrage gaben etwa 20 Prozent der israelischen Bürger über 18 Jahren an, dass sie an mindestens einer Demonstration gegen den Plan der Regierung teilgenommen haben. Etwa 50 Prozent der Bürger sind gegen den Plan, nur 30 Prozent unterstützen ihn und 20 Prozent sind noch unentschlossen. Es besteht ein wachsender Konsens darüber, dass eine Justizreform unabhängig von ihrem Kontext nicht allein mit den Stimmen der Koalition durchgesetzt werden kann, sondern eine breite Unterstützung, auch durch die Oppositionsparteien, erfordert. Sollte die Knesset ein Gesetz verabschieden, das die gerichtliche Kontrollbefugnis einschränkt, ist es sehr wahrscheinlich, dass ein solches Gesetz vom Obersten Gerichtshof für ungültig erklärt wird.

Doch selbst wenn eine Einschränkung der gerichtlichen Kontrollbefugnis nicht unmittelbar droht, besteht nach wie vor das Hauptproblem in der Spaltung der israelischen Öffentlichkeit über die richtige Definition eines jüdischen Staates. Wahrscheinlich gibt es eine kleine Mehrheit, die sich einen säkularen Staat wünscht, der Staat und Religion voneinander trennt, aber unter den Juden gibt es vermutlich eine Mehrheit für eine Politik der Ungleichbehandlung der arabischen Minderheit. Daher ist eine unabhängige, den Werten der freiheitlichen Demokratie verpflichtete Justiz so wichtig. Die grundsätzliche und drängendste Herausforderung besteht darin, Frieden mit den Palästinensern zu schließen, da dies auch innerhalb Israels den Kern des Konflikts zwischen Juden und Arabern bildet.


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