Wir können es uns nicht leisten, isoliert zu sein
von Barak Medina

Illustration: Jens Bonnke

Die brutalen Angriffe der Hamas auf Israel am 7. Oktober markierten einen bitteren Wendepunkt in der 75-jährigen Geschichte des Landes. Die Hamas trägt die Verantwortung für den seit fast sieben Wochen andauernden Krieg, der auch auf palästinensischer Seite großes Leid verursacht hat.
Dies ist Gegenstand hitziger Debatten in der akademischen Welt.

Ein Interview von Anne Rethmann mit Prof. Barak Medina von der Juristischen Fakultät der Hebräischen Universität Jerusalem über die aktuelle Situation in Israel, offene Briefe und deren Rolle in der öffentlichen Diskussion.

Anne Rethmann: Am 11. Oktober 2023 haben Sie zusammen mit dem Direktor und Rektor der Hebräischen Universität einen Antwortbrief an die Präsidenten der Universitäten Harvard und Stanford verfasst, der in seiner Formulierung für die akademische Welt ungewöhnlich klar ist. In dem Schreiben mit dem Titel "You have failed us" ("Ihr habt uns im Stich gelassen") kritisieren Sie deren Haltung der neutralen Distanz zur aktuellen Situation und betonen, dass eine moralisch relativierende Haltung angesichts der unglaublich brutalen Tötung von mehr als 1.200 Menschen durch die Hamas nicht angemessen ist. Warum hat Ihre Institution so schnell öffentlich Stellung bezogen?

Brarak Medina: Manche Menschen haben kritisiert, dass eine Universitätsleitung nicht zu jedem einzelnen Fall öffentlich Stellung beziehen kann. Wir werden auch keine Universitäten kritisieren, die die Hamas nicht öffentlich verurteilen. Aber in diesem Fall hat die Präsidentin von Harvard, ähnlich wie in Stanford, zusammen mit den Dekanen eine Stellungnahme veröffentlicht, als Reaktion auf eine Veröffentlichung von dreißig ihrer Studierendengruppen, welche ausschließlich Israel für den Terrorangriff verantwortlich gemacht und jegliche Verurteilung der Hamas unterlassen hat. Wenn solche inakzeptablen Ansichten an den Universitäten verbreitet werden und die Präsidenten beschließen, darauf zu reagieren, dann erwarten wir, dass sie die Fakten vor Ort einbeziehen. Ihre neutrale Haltung hat uns beunruhigt. Das war wenige Tage nach dem Angriff, noch bevor es auf den Campussen feindselig gegenüber jüdischen Studenten wurde.


Haben Sie Reaktionen von den Universitäten erhalten?

Wir haben von beiden Präsidenten eine Antwort erhalten. Sie haben ihre Aussagen revidiert, aber nicht nur, weil wir den Brief geschrieben haben. Auch Ankündigungen von Geldgebern, dass sie aufhören werden zu spenden, und Briefe einiger Fakultätsmitglieder haben eine Rolle gespielt. Die beiden überarbeiteten Statements waren immer noch zurückhaltend in der Verurteilung der Hamas, aber es war ein Schritt in die richtige Richtung. Es ist nicht unser Auftrag, den Staat Israel, das jüdische Volk oder jüdische Studierende zu vertreten. Wir verfolgen auch nicht jeden Brief, der geschrieben wird. Aber wir sind Teil derselben akademischen Gemeinschaft, und wir wollten sie darüber informieren, dass wir ihre Position infrage stellen.


Viele der derzeit kursierenden akademischen Briefe gehen immer noch davon aus, dass der aktuelle Krieg nur eine weitere Version des israelisch-palästinensischen Konflikts ist. Die Vorwürfe gegen Israel reichen von Apartheid über kollektive Bestrafung bis hin zu Völkermord. Dagegen wird die Hamas oft von diesen Vorwürfen ausgenommen. Man würde erwarten, dass Akademiker und Akademikerinnen zwischen der Hamas und der IDF, zwischen Massaker, Pogrom, Krieg und Völkermord unterscheiden können. Wie erklären Sie sich diese Reaktionen, insbesondere von Akademikern im Ausland?

Die totale Verurteilung dessen, was die Hamas getan hat, ist aus moralischer Sicht ein einfacher Fall. Jedenfalls sollte es ein einfacher Fall sein. Zwei andere Themen sind komplizierter. Ein Thema betrifft die Legitimität dessen, was die IDF ("Israel Defense Forces", Anm. d. Redaktion) in Gaza als Reaktion auf den Angriff tun. Und das andere Thema betrifft die Besatzung und die Kontextualisierung zu dem, was jetzt passiert. Was die unmittelbare Reaktion der IDF auf das, was am 7. Oktober passiert ist, betrifft, gibt es eine illegitime und eine legitime Kritik. Die illegitime Kritik an dem was die IDF tut, besteht darin, es als Rache oder Vergeltung zu bezeichnen mit dem einfachen Ziel, so viele Palästinenser wie möglich zu töten. Das ist irreführend. Vielleicht kennen diese Menschen die Fakten nicht und sagen dies, weil sie sich nicht in die schwierigere Diskussion einmischen wollen. Oder aber es ist das Ergebnis von Antisemitismus und Vorurteilen.

Was wäre eine legitime Kritik an Israels Handlungen gegen die Hamas in Gaza?

Ein Ziel der IDF-Aktivitäten ist, sicherzustellen, dass die Hamas uns nicht erneut angreift. Die Führer der Hamas geben offen zu, dass sie beabsichtigen, einen zweiten 7. Oktober, einen dritten und einen "Millionsten" durchzuführen. Sie sagen das wiederholt, sie verbergen es nicht. Israel ist dafür verantwortlich, die Hamas zumindest zu schwächen, um die Bedrohung in Zukunft zu verringern. Das andere Ziel ist, die Geiseln zu befreien. Diese Ziele rechtfertigen aus Sicht des Völkerrechts durchaus die unbeabsichtigte Tötung von Zivilisten, jedoch nicht in unbegrenzter Zahl. Natürlich gibt es eine Grenze. Es ist verboten, übermäßigen Schaden zu verursachen. Die Frage ist, welcher Schaden ist übermäßig und welcher nicht? Das ist eine Frage, auf die niemand die richtige Antwort hat. Es gibt den Begriff der Verhältnismäßigkeit. Es ist schwierig zu beurteilen, welche Art von Schaden in Kriegsfällen verhältnismäßig ist und es ist eine heikle Frage, ob das, was die Armee tut, verhältnismäßig ist. Man fragt sich, warum diese heikle Diskussion vermieden wird. Vielleicht, weil Menschen lieber eine klare Antwort wollen, keine Nuancen. Weil sich Menschen eher mit Politik als mit Recht beschäftigen. Es ist eine offene Debatte, die sich aber auf eine Bewertung dessen stützen muss, was an Ort und Stelle geschieht.

Wie sehen Sie im Kontext des aktuellen Krieges die Frage nach der Besatzung, die zunehmend dazu verwendet wird, die Hamas-Angriffe zu erklären, leider oft mit dem Resultat, sie zu bagatellisieren?

Es ist klar, dass die Besatzung nicht rechtfertigen kann, was die Hamas getan hat. Die Frage ist jedoch, ob es legitim ist, Israel dafür zu kritisieren, dass es in der Region keinen Frieden gibt. Auch das ist kompliziert. Zunächst muss man anerkennen, dass die Hamas gegen Frieden ist. Sie handeln immer dann, wenn es eine Aussicht auf Frieden gibt - dieses Mal mit Saudi-Arabien. Der Gaza-Streifen war nicht besetzt. Es wird oft gesagt, dass Gaza unter Belagerung steht. Aber es wird nicht erwähnt, warum es eine Blockade gibt: Seit dem israelischen Rückzug von 2005 greift die Hamas Israel ständig mit Raketen an.

Das Problem mit der israelischen Regierung ist, dass sie es versäumt hat, ihre langfristigen Pläne für Gaza und das Westjordanland zu präsentieren. Aus der Reaktion der internationalen Gemeinschaft sollten wir lernen, dass wir es uns nicht leisten können, die Schwierigkeiten zu ignorieren, die die Besatzung verursacht. Ich befürchte, dass diese einseitigen Reaktionen der internationalen akademischen Gemeinschaft es den Israelis leichter macht, dies weiterhin zu ignorieren. Die Forderung nach einem palästinensischen Staat "from the river to the sea" trägt dazu bei. Die Israelis können die Besatzung einfacher ignorieren, wenn die Alternative ist, entweder wir oder sie. Es ist ein Nullsummenspiel.

Wenn es einen Staat vom Fluss bis zum Meer gibt, wohin soll ich gehen? Mein Vater wurde in Ägypten geboren. Die Ägypter würden uns nicht zurück nach Ägypten lassen, selbst wenn wir wollten. Meine Mutter wurde in Israel geboren. Ihre Eltern sind aus Österreich und Deutschland nach Israel eingewandert. Es ist leichter, Kritik zu ignorieren, wenn sie in so einfacher Weise erfolgt und nicht nur die Position der Palästinenser vertritt, sondern der Hamas. Die Politik der Hamas zu übernehmen und einen palästinensischen Staat "from the river to the sea" zu fordern, bedeutet, dass man nicht nur gegen Israel ist, sondern auch gegen die Aussicht, dass hier jemals Frieden herrschen wird. Ich sage das nicht nur, um die internationale Gemeinschaft zu kritisieren, sondern auch uns selbst, die Israelis.

Am 20. November 2023 erschien in der New York Review of Books ein offener Brief mit dem Titel "Der Missbrauch der Holocaust-Erinnerung". Die Initiatoren konzentrieren sich auf die Regierung Netanyahu und den Vergleich von Hamas mit den Nazis. Ignoriert ein solcher ausschließlicher Fokus auf die israelische Regierung die wichtigen Stimmen der parlamentarischen Opposition und der Zivilgesellschaft? Der Vergleich von Hamas mit den Nazis ist nicht der vorherrschende Diskurs hier in Israel. Wenn es beispielsweise um die Methoden der Hamas geht, werden sie viel häufiger mit ISIS verglichen. Wie erklären Sie diesen ausschließlichen Fokus auf die Stimmen der extremen Rechten in Israel und welche Auswirkungen hat dies auf das allgemeine Verständnis dessen, was hier passiert?

Das ist eine einfache Zielscheibe. Wir erinnern uns daran, dass die Russen ihre Besatzung der Ukraine damit gerechtfertigt haben: "Sie sind die Nazis." Natürlich war das eine völlig unbegründete Anschuldigung. Ich kann verstehen, warum einige Hamas als Nazis bezeichnen, hinsichtlich ihrer Grausamkeit, die zum Beispiel einige Menschen an Babyn Yar erinnert: Am 7. Oktober haben einige Menschen nur überlebt, weil sie sich unter den Leichen von Freunden verstecken konnten. Das ist eine Babyn Yar-Erfahrung. Aber es ist übertrieben, die Hamas in Bezug auf das Ausmaß der Bedrohung mit den Nazis zu vergleichen. Es ist kontraproduktiv und steht nicht einmal im Mittelpunkt der Kampagne der israelischen Regierung. Die vorherrschende Meinung in Israel lautet eher: "Hamas ist ISIS", und das halte ich in der aktuellen Situation für relevanter. Es ist schwer zu erklären, warum diejenigen, die uns kritisieren, sich lieber auf diese kleine Gruppe konzentrieren. Vielleicht ist es einfach eine Strategie, ihr eigenes Argument durch die Verwendung dieser Perspektive zu formulieren.
Das eigentliche Problem ist jedoch vielmehr, die richtige Antwort auf die Hamas zu finden. Hier gibt es eine interessante historische Anekdote, die dreißig Jahre zurückreicht und sich auf Deutschland, Israel und die USA bezieht. Als die Osloer Abkommen ausgearbeitet wurden, gab es eine Debatte darüber, ob im Abkommen ein Verbot bestimmter politischer Parteien vorgesehen werden sollte. Die Frage ist, ob die Hamas erlaubt oder sie von zukünftigen Wahlen ausgeschlossen werden sollte. Wenn wir uns auf die politische Partizipation der Hamas beziehen, kann auch über den Vergleich mit den Nazis fundierter debattiert werden.

Beeinflusst all das - die sehr aggressiven anti-israelischen und antisemitischen Ausschreitungen an ausländischen Universitäten, die unzureichenden Reaktionen eines nicht unerheblichen Teils der akademischen Gemeinschaft, die einseitigen offenen Briefe - die zukünftige akademische Zusammenarbeit?

Die israelische Wissenschaft stützt sich aufgrund ihrer geringen Größe sehr auf die internationale Wissenschaft. Wir veröffentlichen fast ausschließlich in internationalen Fachzeitschriften. Alle unsere akademischen Entscheidungen zu Einstellungen, Beförderungen und ähnlichem basieren auf Bewertungen internationaler Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Wir sind Teil eines internationalen akademischen Felds. Es besteht die Sorge, dass wir durch die Boykottbewegung BDS aus dieser Gemeinschaft ausgeschlossen werden könnten. Das wäre das Ende der israelischen Wissenschaft. Wir können es uns nicht leisten, eine isolierte Insel zu sein. Neben der Frustration aus politischer Sicht bestünde die reale Gefahr, dass wir nicht in der Lage wären, als Wissenschaft zu agieren. Unsere Antwort darauf muss eine höfliche, detaillierte Reaktion sein, die sich auf die gemachten Argumente bezieht und versucht, zu überzeugen. Es gibt Menschen, die nicht bereit sind zuzuhören, aber viele derjenigen, die uns kritisieren, sind kluge und anständige Menschen. Sie können ihre Meinung ändern oder zumindest differenzieren. Das erfordert von uns, Zurückhaltung zu zeigen und zuzugeben, dass der Schaden, den die IDF in Gaza verursacht, erheblich ist. Wir sollten die Härte der Besatzung anerkennen. Wir können es uns nicht erlauben, Israel als frei von Problemen darzustellen. Wir kämpfen wir um die Wahrheit.

In den letzten 12 Monaten haben Sie sich intensiv in die Diskussion um die sogenannte Justizreform eingebracht. Außerhalb der akademischen Welt gelten Sie auch als wichtige Stimme gegen diese Bemühungen der aktuellen Regierung. Ich weiß, es ist momentan sehr schwer, Vorhersagen zu treffen, aber wie sehen Sie die innenpolitische Zukunft Israels und die Möglichkeit einer friedlichen Zukunft sowohl für Israelis als auch für Palästinenser nach dem 7. Oktober?

Es ist sehr schwer vorherzusagen. Ich glaube, die Justizreform ist vorbei. Die Regierung hat erkannt, dass diese Spaltung etwas ist, das wir uns nicht leisten können. Ich denke, kurzfristig könnte es zu einer stärkeren Polarisierung kommen. Diejenigen auf der linken Seite sind von ihren Ansichten überzeugter, aber es wird auch eine Verschiebung nach rechts geben und hinsichtlich der Beziehungen zu den Palästinensern auch Angst, ihnen zu vertrauen. Aber ich denke, langfristig könnten wir ­allmählich erkennen, dass wir einen fortdauernden Kriegszustand nicht bewältigen können. In der Offensive sind wir hervorragend, in der Vertei­digung aber schwach. Wir können unsere Grenzen nicht effektiv verteidigen. Der einzige Weg, hier zu leben, besteht darin, nach Frieden zu streben.

Das ist etwas, das ich nicht in naher Zukunft sehe, aber es könnte sich langfristig ereignen. Und ich hoffe sehr, dass es auch aus palästinensischer Perspektive zu dieser Art von Erkenntnis kommen wird und die Palästinenser erkennen werden, dass es für sie schlimmer ist, auf der Seite der Mörder der Hamas zu stehen. Es könnte also der Fall sein, dass sie zu Kompromissen bereit sind – auch in Bezug darauf, zumindest kurzfristig keine Armee zu haben. Aber das kann ich nicht mit Sicherheit sagen.

Barak Medina hat den Lehrstuhl Landecker-Ferencz für die Erforschung des Schutzes von Minderheiten und gefährdeten Gruppen an der Juristischen Fakultät der Hebräischen Universität Jerusalem inne.

Anne Rethmann ist Gastdoktorandin am Jacob Robinson Institute für die Geschichte individueller und kollektiver Rechte an der Hebräischen Universität Jerusalem.

Eine kürzere Version dieses Interviews erschien am 30. November 2023 in der gedruckten Ausgabe der Jungle World sowie online: https://jungle.world/artikel/2023/48/israelische-universitaeten-wir-koennen-es-uns-nicht-leisten-isoliert-zu-sein

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