Decoding Antisemitism-Report:
Jeder vierte Online-Kommentar zu Strafverfahren gegen ehemaliges KZ-Personal ist antisemitisch.


Holocaust-Leugnung in Frankreich, Schuldabwehr in Deutschland: Der dritte Diskursreport des von der Alfred Landecker Foundation geförderten Forschungsprojektes „Decoding Antisemitism” dokumentiert eine erschreckende Vielfältigkeit und Anpassungsfähigkeit von Antisemitismus im Internet.

Bei ihrer Analyse untersuchten die Wissenschaftler:innen u.a. die Reaktionen auf Berichte über ein Strafverfahren gegen drei ehemalige KZ-Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Das Ergebnis: 25% der 3.780 Kommentare, die auf den Websites von deutschen Leitmedien sowie auf deren Facebook- und Twitter-Profilen analysiert wurden, enthielten judenfeindliche Aussagen. Bei fast allen antisemitischen Kommentaren handelte es sich um versteckten Antisemitismus.

Diesen impliziten Antisemitismus zu erfassen, ist genau das Ziel des Projektes „Decoding Antisemitism”, das vom Zentrum für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin in Kooperation mit dem King‘s College London realisiert wird. Mithilfe von Machine Learning soll ein Algorithmus lernen, antisemitische Codes zu erkennen. Die halbjährlichen Veröffentlichungen der Diskursberichte, der Detailanalysen, dienen dabei als „Futter“, um diese Algorithmen zu trainieren. Letztendlich soll dabei ein Instrument entwickelt werden, das impliziten Antisemitismus in Kommentarspalten sichtbar macht.

Besonders häufig enthielten die Reaktionen auf das Verfahren gegen die ehemaligen KZ-Mitarbeitenden das antisemitische Konzept der Schuldabwehr. Nutzerinnen und Nutzer versuchten, die Angeklagten – und damit das deutsche Volk im Allgemeinen – von der Verantwortung für den Holocaust freizusprechen. In Kommentaren wurde behauptet, dass selbst SS-Offiziere keine Wahl für ihr Verhalten hatten.

Das Fazit des „Decoding Antisemitism”-Forschungsteams lautet entsprechend:

„Die Analyse zeigt, dass die Bemühungen der deutschen Gesellschaft um eine Aufarbeitung und Bewältigung der Vergangenheit unzureichend bleiben. Der vermeintlich breite Konsens in Deutschland über die NS-Verbrechen weist erhebliche Lücken auf. Hier Abhilfe zu schaffen, sollte eine vordringliche Aufgabe sein.”

Wie anpassungsfähig Antisemitismus im Internet ist, dokumentiert die Analyse von Online-Debatten in Frankreich zur Einführung des sogenannten Gesundheitspasses – des „Corona-Passes“, der Impfung oder einen Corona-negativen Status nachweist. Dafür wurden 4.246 Kommentare der Facebook- und Twitter-Seiten von französischen Mainstream-Medien analysiert – u.a. mit folgenden Ergebnissen:

- Der Anteil antisemitischer Äußerungen stieg von 3 auf 15 %, als sich die Diskussion auf die Strafverfolgung einer Demonstrantin gegen den Corona-Pass verlagerte. Die Demonstrantin hatte zuvor prominente französische Jüdinnen und Juden beschuldigt, für die Einführung des Corona-Passes verantwortlich zu sein.

- Diejenigen, die argumentierten, der Vorwurf der Demonstrantin sei antisemitisch, wurden als böswillige Panikmacher abgetan, die im Namen der politischen Elite die Meinungsfreiheit einschränken wollten. Andere bestätigten den Vorwurf und argumentierten, dass Jüdinnen und Juden in der französischen Elite „überrepräsentiert“ seien.

- Die Internetnutzer verglichen die Maßnahmen der französischen Regierung zur Bekämpfung von Corona häufig mit jenen der Nazis und die Demonstrant:innen mit Jüdinnen und Juden. Dabei positionierten sich die Kommentator:innen durch eine Verharmlosung des Holocausts als Opfer.

Obwohl beide Kontroversen sehr unterschiedlich sind, zeigen die Analysen aus Deutschland und Frankreich signifikante Ähnlichkeiten: Eine gemeinsame Tendenz zeichnet sich durch die Relativierung, Verharmlosung und Trivialisierung des Holocaust aus, sowie durch die Verbindung antisemitischer Konzepte mit Kritik an den jeweiligen Regierungen.

Den vollständigen dritten Diskursreport können Sie hier herunterladen.

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