Mehr Mut zur Demokratie
Warum Demokratieinnovationen zwingend nötig sind, um die Demokratie, wie wir sie kennen, zu verteidigen


Von Noah Schöppl & Jelena Gregorius

Junge Menschen stehen hinter demokratischen Idealen, sind aber unzufrieden mit der demokratischen Praxis. Die junge Generation hat Lust darauf, die Zukunft mitzugestalten - wenn man sie lässt.

Am 26. September 2021 wurde in Deutschland der 20. Bundestag gewählt. Die Wahlbeteiligung belief sich auf 76,6% - eine leichte Erhöhung im Vergleich zu 2017. Auf den ersten Blick scheint es der Demokratie in Deutschland gut zu gehen. Die große Mehrheit der Deutschen hat ihre Stimme demokratischen Parteien gegeben und die Wahlbeteiligung ist im internationalen Vergleich hoch. Schaut man jedoch genauer hin, sieht man, dass die Demokratie in Deutschland und auch in anderen Ländern vor großen Herausforderungen steht. Laut dem Varieties of Democracies Institut der schwedischen Universität Gothenburg ist im letzten Jahrzehnt die Anzahl der funktionierenden Demokratien, in denen die Grundrechte geachtet werden, weltweit von 41 auf 32 gesunken und ein Drittel der Menschen weltweit lebt in einem Land das von “democratic backsliding” betroffen ist - das sich also einer Autokratie annähert. Auch wenn das in Deutschland (noch) nicht der Fall ist, gibt es keinen Grund zu glauben, Demokratie sei etwas Selbstverständliches.

Die COVID-19-Pandemie und der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine hat gesellschaftliche Verwerfungen und Unsicherheit verstärkt. Neue Technologien transformieren alle Lebensbereiche rasant. Globale, komplexe Probleme wie die Klimakrise fragen nach ambitionierten Lösungen mit einem langen Zeithorizont, der demokratische Wahlperioden übersteigt. Gleichzeitig nimmt die Polarisierung der Gesellschaft zu, der gesellschaftliche Zusammenhalt lässt nach und das Vertrauen in demokratische Institutionen und vor allem politische Parteien erodiert. Dazu kommt der Aufstieg neuer autoritärer und rechtspopulistischer Kräfte innerhalb von Demokratien und brutalen faschistischen Kräften, die Demokrat*innen herausfordern entschieden zusammenzustehen und einander zu verteidigen. Diese Herausforderungen werden wir nicht alleine meistern, indem wir die bestehenden Institutionen verteidigen, sondern indem wir für Visionen werben, die Antworten auf die Fragen unserer Zeit geben und unsere demokratische Praxis mutig erneuern und weiterentwickeln.

Laut einer Studie von More in Common äußern 70% der Menschen in Deutschland ein starkes Bedürfnis nach Zusammenhalt und wünschen sich, dass wir trotz unserer Unterschiede zusammenfinden. Verschiedene Institutionen und Organisationen haben sich verpflichtet, genau hier anzusetzen. Die Stärkung der Zivilgesellschaft und des gesellschaftlichen Zusammenhalts, das Entgegenwirken von shrinking spaces, wie es im EU-Jargon heißt, sind schon lange etablierte Schlagworte in der Demokratieförderlandschaft. Oft ist die Belebung dieser Phrasen jedoch zu wenig ambitioniert, bleibt zu bürokratisch und wird nur mit geringen finanziellen Mitteln ausgestattet. Demokratische Institutionen und Prozesse müssen weiterentwickelt oder neu geschaffen werden, um den sozial-ökologischen Herausforderungen unserer Zeit gerecht zu werden. Mutige Veränderungen sollten wir by design und nicht erst by disaster angehen, um proaktiv Handlungsspielräume nutzen zu können und nicht reaktiv handeln zu müssen.

Es gibt viel zu tun. Neben öffentlichen Förderstrukturen wie einem klugen und gut ausgestaltetem Demokratiefördergesetz werden für Demokratieinnovationen strategische private Geldgeber:innen mit gesellschaftlichem Risikokapital benötigt. Ähnlich wie Venture Capital in der Privatwirtschaft gezielt genutzt wird, um vielversprechende, aber noch nicht vollständig ausgereifte Veränderungspotenziale freizusetzen, braucht es auch in der Demokratielandschaft Akteur:innen, die bereit sind, Unsicherheiten zu reduzieren und Herausforderungen mit gesellschaftlichem Risikokapital zu begegnen. Diese beherzten Investitionen sollten getrieben sein von einer hohen Flexibilität und Dynamik, einer ehrlichen Fehlerkultur gepaart mit einem Vertrauensvorschuss und niedrigschwelliger Bürokratie. Statt Profit, finanzieller Rentabilität und Konkurrenz soll es um gesellschaftlichen Nutzen und Kollaboration gehen. Langfristige systemische Veränderung in der Gesellschaft statt schneller Skalierungsmodelle. Miteinander statt Nebeneinander, mit Inklusion und Diversität als Grundvoraussetzung und nicht nur als nice to have.

Wir nennen diese Ambition Open Social Innovation: ein offener Beteiligungsprozess für neue Lösungsansätze zu gesellschaftlichen Herausforderungen. Das gemeinsame Open-Social-Innovation-Programm UNMUTE NOW von ProjectTogether und der Alfred Landecker Foundation hat gezeigt, was mutiges Engagement in der deutschen Demokratie bewirken kann. Die größte Gruppe der Nichtwähler:innen in Deutschland sind junge Menschen zwischen 18 und 29 Jahren. Umfragen ergeben, dass junge Menschen sehr wohl Meinungen haben und diese auch lautstark vertreten möchten, sich aber schlichtweg nicht gehört und ernst genommen fühlen. Unlängst hat eine Studie von Arolsen Archives gezeigt, dass 16- bis 25-Jährige ein größeres Interesse an Themen, wie z.B. der NS-Verfolgung haben, als 40- bis 60-Jährige und dass gerade die junge Generation findet, dass diese Themen relevant für die Gegenwart und Zukunft sind.

Deshalb riefen wir das Programm UNMUTE NOW ins Leben. Auf Basis gesammelter wissenschaftlicher Erkenntnisse und der Ergebnisse eigener Fokusgruppen und Umfragen, aber auch im direkten Austausch mit der Zielgruppe, etwa in Form eines Jugendbeirats, wurden 100 Stipendiat:innen gefördert und begleitet. Sie konnten sich so von Juni bis Oktober 2021 über fünf Monate in 30 Initiativen in ganz Deutschland ihren Ideen zur Einbindung von jungen Menschen in Politik und Demokratie widmen. Die Wahl fiel dabei bewusst auf Initiativen aus verschiedenen Bereichen - von Community Organising, Bildung und Empowerment über Musik, Kunst und Theater, zu neuen Medienformaten oder dem Dialog mit der etablierten Politik - um ein breites Spektrum an möglichen Lösungen für die Probleme unserer Demokratie parallel erproben zu können. Neben der finanziellen Förderung erhielten die Initiativen durch ProjectTogether Zugang zu einer ideellen Förderung in Form eines Umsetzungsprogramms, das verschiedenste Vernetzungs-, Fortbildungs- und Unterstützungsangebote umfasste. Begleitend dazu wurde die crossmediale UNMUTE-NOW-Kampagne ins Leben gerufen, die es schaffte, mehr als 10 Millionen junge Menschen auf den verschiedensten Wegen zu erreichen: von deutschlandweiter Außenwerbung an Bahnhöfen, bis viralen Videos auf Social-Media-Kanälen und einer Partnerschaft mit einer Dating-App. Die Kampagne verschaffte dem Thema fehlender Beteiligung junger Menschen in der Demokratie mit Blick auf die Bundestagswahlen 2021 eine große Reichweite und aktivierte die Zielgruppen mit verschiedenen Formaten im digitalen und analogen Raum.

Der Höhepunkt des UNMUTE-NOW-Programms war die Bundestagswahl 2021. In dieser Wahl wurde der Bundestag mit dem jüngsten Durchschnittsalter in der deutschen Parlamentsgeschichte gewählt - und doch sind junge Stimmen bei einem Altersdurchschnitt von 47 Jahren unter den Abgeordneten noch zu stark unterrepräsentiert. Die Ankündigung der neuen Koalition, das Wahlalter auf 16 zu Senken, ist ein Schritt in die richtige Richtung - und noch nicht genug. Um bisher ungehörte und systematisch ausgeschlossene Stimmen an der Demokratie teilhaben zu lassen, bedarf es weiter Mut zur Annäherung an die Ideale der Demokratie. Die meisten jungen Menschen in Deutschland und der Welt stehen hinter diesen demokratischen Idealen, aber sind unzufrieden mit dem realen Zustand der Demokratie in ihren Ländern.

Die große Resonanz auf UNMUTE NOW zeigt, dass der Bedarf an neuen Möglichkeiten für junge Menschen, Demokratie mitzugestalten, riesig ist. Das Programm hat uns aber auch gezeigt, dass junge, unpolitische Menschen zu aktivieren eine anspruchsvolle Herausforderung ist. Viele Initiativen, vor allem im Empowerment- und Bildungsbereich, setzen Impulse, die sich vielleicht erst nach Jahren bemerkbar machen. Selbstbewusste, reflektierte, junge Menschen lassen sich nicht von heute auf morgen aus dem Boden stampfen. Junge Menschen müssen demokratischer Bildung dauerhaft ausgesetzt sein und stets neue, positive Erfahrungen machen, um langfristigen, systemischen Wandel in der demokratischen Kultur herbeizuführen. Für die Zukunft der Demokratie ist es entscheidend, jungen Menschen in ihrer Lebenswelt, egal ob an virtuellen oder physischen Orten, auf Augenhöhe zu begegnen - dort, wo sie sich täglich aufhalten, und politische Fragen und Themen verhandeln.

Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren.
Bertolt Brecht

Für eine mutige Annäherung ist Demokratie mehr, als nur alle vier Jahre wählen zu gehen. Demokratie braucht eine aktive Zivilgesellschaft und Allianzen mutig Engagierter, die Demokratie jeden Tag leben, weiterentwickeln und im Zweifel gegen die Feinde von Demokratien gewaltfrei verteidigen. UNMUTE NOW hat gezeigt, wie groß das Potenzial gesellschaftlicher Initiativen ist - aber auch welches Momentum eine Bundestagswahl birgt, bei der zum ersten Mal seit mehr als einem Jahrzehnt die Gewinner*innen vorher nicht klar abzusehen waren. Es lag und liegt Veränderung in der Luft. Aber: Systemische Veränderung ist kein Sprint, sondern ein Marathon. Es braucht Mut, denn bei großen Experimenten wird nicht immer alles nach Plan funktionieren. Pandemien, Kriege und andere existentielle Krisen können grundlegende Annahmen verändern, dürfen uns aber nie von der Hoffnung abbringen, dass eine bessere Gesellschaft, die ein demokratisches Ideal anstrebt, möglich ist. Auch und insbesondere in dunklen Stunden und scheinbar aussichtslosen Situationen gilt der Satz von Brecht: „Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren.“ Hätten Generationen vor uns diese Hoffnung verloren, hätten wir heute nicht die Freiheit auch nur darüber nachzudenken.

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