Social Sentiment in Times of Crises
Wie krisensicher ist unsere Demokratie?

Illustration: Jens Bonnke

In diesem Gastbeitrag unseres Kooperationspartners FZI Forschungszentrum Informatik, wird das Forschungsprojekt "Social Sentiment in Times of Crises" (SOSEC) vorgestellt. Der Beitrag zeigt auf, wie gesellschaftliche Stimmungen erfasst und potenzielle Kipppunkte in der Gesellschaft antizipiert werden können, um so mögliche Gefahren für die Demokratie frühzeitig zu erkennen und politische Handlungsempfehlungen abzuleiten.

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Die Demokratie in der Bundesrepublik sieht sich aktuell mit multiplen Krisen konfrontiert: Die Nachwirkungen der Pandemie, die Klimakrise, die steigende Inflation, der russische Angriffskrieg auf die Ukraine und zunehmender Antisemitismus im Zuge des Angriffs der Hamas auf Israel am 07.10. Zugleich radikalisieren sich Teile der Gesellschaft – hierbei spielen Desinformation und Verschwörungstheorien eine bedeutende Rolle.

Dies kann nicht nur zur Ablehnung einzelner politischer Entscheidungen, sondern auch zu einem Vertrauensverlust in das politische System mit seinen demokratischen Institutionen führen. Was macht diese Dauerkrise mit uns? Zwischen Bauernprotesten, wiederaufflammendem Antisemitismus und Erfolgen rechtsextremer Parteien gerät der gesellschaftliche Zusammenhalt ins Wanken. Doch anhand welcher Grenzen verlaufen diese Gräben eigentlich? Was polarisiert die Bevölkerung besonders?

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Im vom FZI Forschungszentrum Informatik in Kooperation mit dem KIT durchgeführten Forschungsprojekt Social Sentiment in Times of Crises (SOSEC) werden gesellschaftliche Stimmungen mit einem weltweit einzigartigen Ansatz erfasst und darauf basierend potenzielle Kipppunkte einer kritischen Masse in der Gesellschaft antizipiert.

Mittels repräsentativer Panelbefragungen und agentenbasierten Modellen der Meinungsdynamik beobachtet und bewertet SOSEC kontinuierlich die Entwicklung kritischer Situationen. Das Projekt nutzt dafür das Konzept des Experience Sampling aus der Psychologie und überträgt es auf die Gesellschaft. Bei dieser neuartigen quantitativen Untersuchungsmethode werden den Teilnehmerinnen und Teilnehmer (jeweils 1500 aus Deutschland und den USA) Fragen gestellt. Die wöchentlichen Fragen decken neben demographischen Daten (wie beispielsweise Geschlecht und Einkommen) die persönliche Verfassung und Sorgen der Teilnehmenden, persönliche Perspektiven auf aktuelle Entwicklungen im eigenen Land, politische Einstellungen sowie das Vertrauen in demokratische Institutionen ab.

Diese Daten werden mit News-Daten abgeglichen, die Auskunft darüber geben, was wichtige politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Themen in der medialen Berichterstattung zu einem bestimmten Zeitpunkt waren, sowie mit Social Media-Daten, die die Rezeption der Großereignisse auf sozialen Netzwerken widerspiegeln. Letzteres erfolgt auch in Kooperation mit CeMAS, dem Center für Monitoring, Analyse und Strategie. So wird untersucht, inwiefern Ereignisse, wie die Durchsuchung von Trumps Anwesen Mar al Lago, ein Besuch des US-Präsidenten Biden in der Ukraine, oder das Ausscheiden der deutschen Nationalmannschaft bei der Fußball-EM in einem Zusammenhang mit der veränderten individuellen und politischen Stimmungslage stehen.

Erste Ergebnisse des umfangreichen Datensatzes zeigen, dass im Sommer 2023 die Menschen sich die größten Sorgen um den weltweiten Klimawandel gemacht haben, gefolgt von Sorgen vor Krieg. Erst an dritter Stelle standen die Sorgen um den Wohlstand unserer Gesellschaft – bemerkenswert nach einer Phase hoher Inflation und wirtschaftlicher Folgen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine.

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Die Sorgen vor einer Ausbreitung des Krieges nehmen zu, ebenso die Sorge vor einem Einsatz von Atomwaffen im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. In 2024 machen sich knapp 65% der Menschen sehr viel oder etwas Sorgen, dass Deutschland tiefer in den Krieg in der Ukraine involviert wird.

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Die Sorge vor dem globalen Klimawandel bleibt auch Anfang 2024 hoch, wurde aber durch die Kriegssorgen überholt.

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Gut ein Drittel der Befragten gibt weiterhin an, der Klimawandel bereite ihnen „sehr viel Sorgen“. Weniger als 10 Prozent der Befragten macht er „überhaupt keine Sorgen“. Dennoch nimmt die Zustimmung zum Klimaschutz ab. Zwar ist mit 52 Prozent der Menschen noch immer die Mehrheit für mehr Klimaschutz. Aber mit rund 28 Prozent sprechen sich derzeit weit mehr Leute dagegen aus als zu Beginn der Datenerhebung im November 2022. Die zurückgegangene Zustimmung zum Klimaschutz zeigt sich durchaus auch in den Wahlergebnissen zur Europawahl in Deutschland. Die Einstellung zum Klimaschutz hat sich zuletzt unabhängig vom Bildungsabschluss verändert: Bei Menschen mit Abitur, mittlerer Reife und Hauptschulabschluss sank die Ablehnung zuletzt stark. Insgesamt sind Menschen mit höherem Schulabschluss stärkerem Klimaschutz nach wie vor positiver gesonnen.

Die Einstellungen unterscheiden sich auch nach Haushaltseinkommen. Diejenigen mit hohem Einkommen sind eher bereit, Klimaschutz zu priorisieren. Vielleicht ist es darauf zurückzuführen, dass Menschen mit höherem Einkommen finanzielle Belastungen durch Klimaschutz-Maßnahmen besser tragen können. Und dass sie eher von bisherigen Fördermaßnahmen, beispielsweise für E-Autos, profitieren können. Besonders die Mittelschicht – Haushalte mit Nettoeinkommen zwischen 2600 und 3560 Euro – ist dagegen, den Klimaschutz über die Wirtschaft zu stellen.

Vielleicht ist diese Ungleichheit in der Wahrnehmung, vom Regierungshandeln zu profitieren, auch ein Treiber von Wut in der Gesellschaft. Während die Wut zwischen Ende 2022 und Ende 2023 zunächst allgemein sank (außer bei den Sympathisantinnen und Sympathisanten der AfD), stieg sie zwischen Ende 2023 und Mai 2024 wieder (außer bei Sympathisantinnen und Sympathisanten der FDP) - am stärksten bei den Sympathisantinnen und Sympathisanten der AfD.

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SOSEC ist ein Projekt des FZI in Kooperation mit dem KIT. Die Alfred Landecker Stiftung fördert das Projekt seit November 2022. Die Gruppe von Forschenden von FZI und KIT arbeitet interdisziplinär und verfügt über Expertise in den Disziplinen (Wirtschafts-)Informatik, VWL, Soziologie, Computational Social Science und Politikwissenschaft. Dr. Jonas Fegert (FZI/KIT) leitet das Konsortium in Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Christof Weinhardt (FZI/KIT), Prof. Dr. Michael Mäs (KIT) und Prof. Dr. Achim Rettinger (FZI/Uni Trier).

Ein wichtiger Aspekt des Forschungsprojekts ist es, die Ergebnisse in die Gesellschaft zu tragen und sie für Politik, Verwaltung und Zivilgesellschaft nutzbar zu machen. Darum findet ein intensiver Austausch mit den Akteur*innen statt, die sich der gesellschaftlichen Spaltung entgegenstellen. Ein eigens für das Projekt entwickeltes Dashboard ermöglicht Forschenden und Entscheidungsträger*innen zudem einen niedrigschwelligen Zugang zu den Umfragedaten und eine schnelle Überprüfung von Hypothesen und Fragestellungen.

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Über die Beteiligten

Dr. Jonas Fegert, Projektleitung & Leiter House of Participation am FZI

Prof. Dr. Christof Weinhardt

Prof. Dr. Achim Rettinger

Prof. Dr. Michael Mäs


FZI Forschungszentrum Informatik

Haid-und-Neu-Straße 10-14

76131 Karlsruhe


Mehr über SOSEC hier.

Unsere Themen

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