„Unsere Not kommt auch zum Teil daher, dass wir katholisch geworden sind. Heiliger Vater, ich schreibe, wie es ist! Wären wir Juden geblieben, so würden die Juden uns unterstützen“, stellt die aus Deutschland geflohene Johanna Singer in ihrem Brief an Pius XII. verbittert fest.1 Diese und zahlreiche andere Selbst- und Fremdzuschreibungen finden sich in den Bittbriefen, die jüdische Menschen aus ganz Europa zur Zeit des NS-Regimes an den Papst und den Vatikan richteten.
In bemerkenswerter Offenheit schildern die Bittstellerinnen und Bittsteller ihr Ringen um Identität im Spannungsfeld religiöser, rassenideologischer und kultureller Zugehörigkeiten. Die Frage nach unterschiedlichsten Konstruktionen jüdischer Identität spielt jedoch nicht nur in den Bittschreiben, sondern auch in der dazugehörigen vatikanischen Korrespondenz eine zentrale Rolle. Die einmalige Quellensammlung liegt in den der Forschung seit 2020 zugänglichen Beständen zum Pontifikat Pius’ XII. in den vatikanischen Archiven.
Zentrales Anliegen des von der Alfred Landecker Foundation geförderten Projekts „Belonging then and now“ ist es, die Vielfalt und Komplexität jüdischer Zugehörigkeiten in den Bittschreiben zu untersuchen. Dazu werden die Dokumente mithilfe eines Kategoriensystems entlang inhaltlicher Fragestellungen ausgewertet. Ergänzt werden die Ergebnisse durch die Analyse der vatikaninternen Bearbeitung und dortigen Wahrnehmung des „Jüdisch-Seins“, die auf eine Vielzahl von Forschungsfragen zur individuellen Hilfe für Menschen jüdischer Herkunft durch den Vatikan und die jeweiligen Beweggründe eingeht.
Angesichts eines erstarkenden Antisemitismus und einer schwindenden Zahl an Zeitzeuginnen und Zeitzeugen werden Einzelschicksale außerdem für die politische Bildung didaktisch aufbereitet. In Form digitaler Bildungsangebote und mittels biografischen Lernens werden die Briefe und Lebensgeschichten der Verfolgten für heute virulente Fragen der Identität und Zugehörigkeit aufbereitet.
Da bezüglich der Wirksamkeit von Bildungsformaten der Holocaustedukation auf junge Menschen große Forschungslücken bestehen, werden die Effekte des Materials überprüft, indem eine Evaluation der Bildungsmaterialien vor und nach ihrer Nutzung durchgeführt wird. Die gemessenen Einstellungen und der Wissenszuwachs zur Shoah der Nutzerinnen und Nutzer des Materials geben Aufschluss darüber, ob und unter welchen Umständen Bildungsmaterialien einen Einfluss auf Themenkomplexe wie Demokratieförderung, Antisemitismus, Reflexion von Selbst- und Fremdwahrnehmung oder Erinnerung an die Shoah haben.
Das Projekt baut auf dem von der von der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ) geförderten Forschungsvorhaben „Asking the Pope for Help“ auf, in dem ein Team um Kirchenhistoriker Prof. Dr. Hubert Wolf die Bittschreiben in den vatikanischen Archiven erfasst, aufbereitet und in einer digitalen Edition der Öffentlichkeit zugänglich macht.
1 Archivio Apostolico Vaticano (AAV) – Vatikanstadt, Arch. Nunz. Svizzera / 82, fasc. 18, fol. 139r-140v