20. Januar 1942
Was bleibt?


Eröffnung der Internationalen und interdisziplinären Tagung zu 80 Jahre Wannsee-Konferenz, Berlin, 19.-21. Januar 2022


Reflektion und Aktion

Sehr geehrte Frau Staatsministerin Roth,
Sehr geehrter Herr Senator Dr. Lederer,
sehr geehrte Frau Direktorin Hartmann,
meine sehr geehrten Damen und Herren,
liebe Gäste,

ich freue mich, sie alle hier im Namen der Alfred Landecker Foundation begrüßen zu dürfen und heiße sie sehr herzlich – auch im Namen des Vorstands unserer Stiftung Dan Diner – zur gemeinsam mit der Gedenkstätte Haus der Wannseekonferenz veranstalteten Tagung willkommen.

80 Jahre nach der Besprechung und gut 77 Jahre nach der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz stellen wir uns die Frage „Was bleibt?“. Liebe Deborah Hartmann, liebe Mitveranstalter, je öfter ich in den letzten Tagen auf das Programm unsere Konferenz geschaut habe, desto häufiger habe ich mich selbst gefragt, ob hier Resignation – vielleicht unsere eigene Resignation – zu spüren ist.

Vor 20 Jahren hätte ich die Frage nach dem „Was bleibt?“ als eine rhetorische empfunden. Zu Beginn des neuen Jahrtausends gab es eine breite gesellschaftliche Debatte über Formen der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Das Denkmal für die ermordeten Juden Europas im Zentrum der deutschen Hauptstadt, die Debatte über die Entschädigung von Millionen von Zwangs- und Sklavenarbeitern: es waren breite gesellschaftliche Debatten über Schuld und Verantwortung. Und über das Verständnis, auf welchen Grundlagen unser demokratisches Gemeinwesen eigentlich steht.

Diese Debatten schienen mir Nachweise zu sein für einen breiten und verankerten gesellschaftlichen Konsens. Ich erinnere mich auch heute noch sehr gut an die bewegende Aussprache über die Wehrmachtsausstellung im Deutschen Bundestag – 1997, in der Tat eine „Sternstunde“ des deutschen Parlaments. Und heute?

Der Vorsitzende der seinerzeit größten Oppositionsfraktion des Deutschen Bundestages bezeichnet den Nationalsozialismus im Jahr 2018 als, ich zitiere, „Vogelschiss“ der Geschichte. Der Vorsitzende einer Landtagsfraktion aus derselben Partei nennt das Denkmal für die ermordeten Juden Europas ein „Denkmal der Schande“.

Auch solche Äußerungen bereiten den Boden für Geschichtsvergessenheit und Geschichtsleugnung, für das Aufkommen von Verschwörungsideologien und Antisemitismus. Wir erleben das heute nahezu tagtäglich auf den Straßen, bei Vergleichen mit Anne Frank und Sophie Scholl, dem Missbrauch von gelben Sternen. Wir stellen also heute fest, dass unser Konsens erodiert.

Der Alfred Landecker Foundation ist es wichtig, nicht zu resignieren. Auch nicht einfach nur empört zu sein. Zuallererst fragen wir uns, warum es offenbar in diesen Zeiten wieder gelingt, tiefsitzende Vorurteile, die Teilung in das „Wir“ und die „Anderen“ in breiten Teilen unserer Gesellschaft so einfach zu aktivieren oder zu reaktivieren.

„Was bleibt“ ist daher unbedingt auch die Erkenntnis, dass es eines aufmerksamen Alarmsystems bedarf, das Risse in unseren demokratischen Grundordnungen frühzeitig erkennt.

Demokratie bedeutet Debatte, Aushandeln, Kompromissbereitschaft, das Aushalten von Gegensätzen. Sie ist daher – sozusagen naturgemäß – komplex und auch gewissermaßen träge. Wie passt das noch in eine Zeit, in der Meinungs- und Willensbildungen neuen, nahezu ungebremst erscheinenden Dynamiken unterliegen?

Wir von der Alfred Landecker Foundation sehen es deswegen als unsere dringlichste Aufgabe an, diesen tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen nachzugehen – und über Weiterentwicklungen und Anpassungen unseres demokratischen Miteinanders nicht nur nachzudenken, sondern sie zu erproben und zu etablieren. Also das Zusammenwirken von Forschung und gesellschaftlicher Praxis zu stärken. Wir nennen das die Verbindung von Reflektion und Aktion. Eine unsere vornehmsten Aufgaben ist es dabei, gerade in diesen kritischen Zeiten die zu unterstützen, die für eine demokratische Gesellschaft kämpfen: sie tun es durch die Analyse von verschwörungsideologischen Szenen auf Telegram, durch das Vorgehen gegen Hate Spech im Netz, auch durch eine rechnergestützte Analyse antisemitischer Erscheinungen auf Plattformen, aber auch durch eine seriöse journalistische Berichterstattung –oder eben auch durch innovative Ansätze im Bereich der Gedenkkultur und einer zeitgemäßen Auseinandersetzung mit der europäischen Gewalterfahrung des letzten Jahrhunderts. So, wie es in den nächsten drei Tagen hier stattfindet.

Ich bin fest davon überzeugt, dass diese Veranstaltung auch Teil eines dringend benötigten Updates für unsere Kultur des Gedenkens und der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und mit dem Holocaust ist. Die Felder, auf denen Entwicklungspotential besteht, sind zahlreich: Die mangelnde Akzeptanz von kritischer Gedenkkultur abseits der politischen und urbanen Zentren, die Zurückhaltung erinnerungskultureller Akteure bei tagesaktuellen Diskussionen, eine sich verbreitende Unkenntnis historischer Fakten und ein damit einhergehendes erstarkendes deutsches Opfernarrativ – und natürlich die immer noch vorherrschende Skepsis bei der Nutzung neuer technologischer Formate, insbesondere des Digitalen.

Denn wir sehen auch, dass es wieder und erneut wichtig ist, sich mit den Ereignissen zu beschäftigen, die uns vermeintlich so bekannt erscheinen. Wir wollen der Frage nachgehen, was eigentlich falsch läuft, wenn – trotz solch guter Vermittlungsorte wie dem Haus der Wannseekonferenz, trotz umfassender schulischer Befassung, trotz Gedenktagen und Feierstunden – weiterhin in familiärer und privater Kommunikation über den Nationalsozialismus gesagt wird: es war der Verführer Hitler und seine Kumpane, man selbst habe ja nichts tun können, sonst wäre man auch ins Lager gekommen – und man habe Juden geholfen. Ergebnisse einer repräsentativen Studie des Jahres 2018.

Aber wir wissen, dass es anders war. Fast alle haben mitgemacht. In den kommenden Tagen sprechen wir darüber, wie Funktionäre von NS-Organisationen, aber auch die Vertreter der Verwaltung, der Ministerialbürokratie Teil der Maschinerie waren.

„Was bleibt?“, diese Frage und diese Konferenz steht für uns auch Auftakt einer Reihe von Veranstaltungen unserer Stiftung zu Ereignissen, die sich nun zum 80. Mal jähren. Im kommenden Jahr werden wir uns – wieder mit einem renommierten Partner ­– dem Warschauer Ghetto-Aufstand widmen.

Sich die Ursachen, Erscheinungsformen und die Wirkungsweisen des Nationalsozialismus zu vergegenwärtigen, ist mehr als eine Form des historischen Gedenkens, es ist Teil der Auseinandersetzung mit aktuellen Gefährdungen unserer offenen Gesellschaft.

Ich freue mich deswegen ganz besonders, dass nicht nur Dan Diner, Vorstand der Alfred Landecker Foundation und Vorsitzender ihres Stiftungsrats, sondern auch Norbert Frei, Vorsitzender unseres akademischen Kuratoriums, und Sybille Steinbacher und auch Cilly Kugelmann, beide Mitglied dieses Gremiums, ihre Beiträge zu Gestaltung dieser Auseinandersetzung einbringen. Gemeinsam mit der Gedenkstätte Haus der Wannseekonferenz haben wir in den folgenden drei Tagen Raum geschaffen, in dem nicht nur die Ereignisse vor 80 Jahren dargestellt und eingeordnet werden, sondern auch über den zeitgemäßen Umgang damit diskutiert werden kann.

Mein Dank gilt daher allen Beitragenden, aber jetzt schon ganz besonders den Kollegen und Kolleginnen vom Haus der Wannseekonferenz, ohne die die Debatten, Gespräche und Begegnungen der kommenden drei Tage nicht möglich gewesen wären.

Vielen Dank.

Unsere Themen

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