Die Stunde der Teilzeit-Aktivistinnen & Aktivisten
Warum wir uns von der Idee verabschieden müssen, dass Engagement für Demokratie ein 24-Stunden-Job ist.

Illustration von Jens Bonnke



Von Antje Scheidler und Johannes Lukas Gartner

In Zusammenarbeit mit Humanity in Action

Als die Pandemie im Frühjahr 2020 unsere Leben und unsere Zukunftspläne auf den Kopf stellte, wurde deutlich, wie zerbrechlich unsere Demokratien gegenwärtig sind. Alsbald war eine Verschärfung bereits vor Covid-19 bestehender struktureller Ungleichheiten zu beobachten. Und wieder einmal waren es die verletzlichen, marginalisierten Bevölkerungsgruppen, die von einer Krise unverhältnismäßig stark getroffen wurden. Gleichzeitig wurden kritische Stimmen zum Umgang mit der Pandemie schnell abgekanzelt und in denselben Topf geworfen wie jene, die Fiktion über Fakten stellen. Diejenigen, die mit der Regierungspolitik nicht einverstanden waren, etwa als „Covidioten“ abzustempeln, war nicht besonders hilfreich, sondern hatte vielmehr eine weitere Spaltung der Gesellschaft zur Folge.

Vor dem Hintergrund unserer Arbeit für eine kleine, aber internationale Non-Profit-Organisation, die sich zum Ziel gesetzt hat, Raum für Dialoge und Brücken zwischen auseinanderdriftenden Menschen zu schaffen, stellten wir uns die folgenden Fragen:

  • Wessen Stimmen werden in demokratischen Räumen schmerzlich vermisst? 

  • Wen können wir in die Gestaltung der Demokratie einbeziehen? 

  • Wer hat das Potenzial, sich Gehör zu verschaffen und zu größerem Engagement aufzurufen, um so geeigneten Raum für Gemeinschaften, denen es eben daran fehlt, zu beanspruchen oder zu schaffen? 


Als wir über Antworten auf diese Fragen nachdachten, wurde uns schnell klar, dass komplexe Fragen auch komplexe Antworten erfordern. Die Stimmen zahlreicher Gemeinschaften und Identitäten werden bislang nicht gehört. Da wir jedoch einen Ausgangspunkt finden mussten, entschieden wir uns dafür, uns zunächst auf junge Berufstätige, Aktivisten und Künstlern in ihren späten 20ern und 30ern zu konzentrieren. Uns wurde klar, dass wir Menschen erreichen wollen, die fest im Berufsleben stehen und sich mit einzigartigen Ideen in demokratische Prozesse einbringen können – dafür aber noch einen kleinen Impuls benötigen. Menschen, die über die emotionale Intelligenz, das Wissen, die Netzwerke und die Kompetenzen verfügen, die notwendig sind, um tatkräftige Vertreterinnen und Vertretern unserer Demokratien zu werden, denen aber noch ein Rahmen fehlt, in dem sie die sozialen Utopien, von denen sie sich vielleicht abgewandt haben, wieder neu verorten können.


Mit der Alfred Landecker Foundation teilen wir eine gemeinsame Aufgabe, eine parallele Organisationskultur sowie eine gleiche Zielsetzung. Daraus entstand schließlich unser Landecker Democracy Fellowship: Unser bescheidener Beitrag dazu, demokratische Räume, die von ‚-Ismen‘ aller Art und Ungerechtigkeiten durchsetzt sind, zu öffnen, zu gestalten und neu zu erfinden.

Jedes Jahr berufen wir dreißig Fellows mit Führungserfahrung, die nach 1980 geboren wurden. Sie sind in einem Lebensabschnitt, der für viele weniger mit prodemokratischem Aktivismus, sondern mehr mit dem Voranbringen der eigenen Karriere und/oder der Familienplanung verbunden ist. Wir haben uns bewusst dazu entschieden, mit Berufstätigen zu arbeiten, die in einem sehr arbeitsintensiven Abschnitt ihres Lebens sind. Sie haben das berufliche Renommee, die Fähigkeiten, die Kenntnisse und die Netzwerke, die man braucht, um Veränderungen in einer Gesellschaft zu bewirken. Was ihnen vielleicht noch fehlt, sind Anreize dafür, aktiv zu werden: eine Gemeinschaft, individuelle Fortbildungen und finanzielle Mittel – Ausgangspunkte für die einjährige Reise, auf die wir unsere Fellows einladen.

Das Erfolgsrezept: Man nehme die Leidenschaft und die Fachkenntnisse der Fellows, gebe sie zu diversen Netzwerken und Experten, füge ein Stipendium und Startkapital hinzu – und schon steht dem Teilzeitaktivismus nichts mehr im Wege.

„Aktivismus“ ist ein großer Begriff, der viele wohl eher einschüchtert als zum Handeln anregt. Die Schwelle zum Aktivwerden kann mitunter unüberwindbar hoch erscheinen. Doch was sich anhört und anfühlt wie eine Vollzeitbeschäftigung, kann durchaus berufsbegleitend organisiert werden.
Demokratie geht jeden einzelnen Menschen etwas an, nicht nur Politikern und Vollzeit-Aktivisten. Für eine lebendige und widerstandsfähige Demokratie sind die Einbeziehung, das Engagement und der Einsatz einer möglichst großen und vielfältigen Gruppe von Menschen notwendig. Ob Führungskräfte von Unternehmen oder Start-up-Hipster, Mitarbeiter im Gesundheitswesen oder Lehrerinnen und Lehrer an weiterführenden Schulen, Stadtplaner oder Architekten, Organisatoren von Bürgerinitiativen oder Leiter von Non-Profit-Organisationen, Journalisten oder Künstler – wir brauchen Menschen aus allen Bereichen der Gesellschaft. Es ist nicht zuletzt das Engagement von Berufstätigen für die Demokratie, kombiniert mit ihren Fähigkeiten, ihren Kenntnissen, ihren Netzwerken und ihrer Leidenschaft, die dazu beitragen, das soziale Gewebe unserer Gesellschaften stark, widerstandsfähig und dennoch elastisch zu machen. Wir müssen uns von der Vorstellung verabschieden, dass Aktivismus tagtäglich und rund um die Uhr betrieben werden muss: Ein zielgerichtetes Teilzeit-Engagement, das Synergien nutzt und andere zum Handeln bewegt, leistet einen wichtigen Beitrag dafür, demokratischen Stimmen, die bisher ignoriert wurden, mehr Gehör zu verschaffen.

Unsere Fellows und ihre Projekte haben das Ziel, andere dazu zu inspirieren, selbst auf eine Weise aktiv zu werden, die mit ihrer gegenwärtigen Lebenssituation vereinbar ist. Kann daraus eine Bewegung entstehen? Wir hoffen darauf.

Aktivist zu sein, wird oft als Vollzeit-Hobby oder Lebensstil wahrgenommen. Unser Landecker Democracy Fellowship zeigt, dass man die Demokratie bewusst und strategisch gestalten kann, ohne auf ein Familienleben oder berufliche Mobilität verzichten zu müssen.

Wie kriegen wir das hin?
Lernt die erste Kohorte kennen und findet es selbst heraus. Die Projekte der Fellows reichen vom Kampf für die Rechte von Staatenlosen über den Aufbau von Netzwerken für nicht-weiße Fachkräfte bis hin zur Ausbildung von Zivilisten für Seenotrettungseinsätze im Mittelmeer. Die Fellows arbeiten an der Schnittstelle von Theater, Kunst und Geschichtswissenschaften, unterstützen Aktivistinnen und Aktivisten in Ländern mit repressiven Regimes und verleihen den Ausgegrenzten eine Stimme. Sie bilden andere anhand von Studienplänen aus, die geschichtliche Inhalte auf eine neue, mehrdimensionale Weise darstellen. Andere kartieren die Wohnungsstruktur in ländlichen Gegenden, um Wohnungssuchenden zu helfen, oder schulen junge Erwachsene in der Gestaltung neuer Communities. Wir glauben an unsere aktuellen und zukünftigen Fellows, und daran, dass sie – mit der vereinten Kraft von dreißig tatkräftigen Profis – ein Netzwerk von professionellen Akteuren und Impulsgebern für unsere Demokratien aufbauen.

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